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Bald vielleicht auch vor ihrer Tür. Kandidat Peer Steinbrück.
© dpa

Die Wahlkampfbeobachter (10): Wenn der Sozi klingelt

Dass der Haustürwahlkampf der SPD doch noch zum Sieg verhilft, ist höchst fraglich. Trotzdem könnte die Methode ihre wirklich große Leistung in diesem Wahlkampf werden.

Der Erfinder des Stimmenwunders der SPD hat keine Stimme mehr. Er bringt keinen Ton heraus. Kann nichts sagen. Stumm.

Martin Gerster, SPD-Bundestagsabgeordneter, hat während der Hitzewelle Ende Juli die Klimaanlage im Auto voll aufgedreht, er hat sich einen Infekt eingefangen, den wiederum verschleppt und dann war die Stimme weg. Jetzt muss ausgerechnet er aussetzen, während seine Partei massenhaft und millionenfach nachmachen will, was er ihr 2009 vormachte.

Damals zog Gerster von Haus zu Haus und stellte sich den Wählern vor. In den USA oder in Großbritannien hat das Canvassing Tradition, in Deutschland nicht. 2009 sackte die SPD ab. Aber Gerster verzeichnete den höchsten Erststimmenzuwachs in Deutschland und das im Wahlkreis Biberach, das ist erzkatholisches Oberschwaben, wo sozialdemokratische Wunder eigentlich nicht vorgesehen sind.

Immer montags bis freitags erscheint die Kolumne "Die Wahlkampfbeobachter".
Immer montags bis freitags erscheint die Kolumne "Die Wahlkampfbeobachter".
© Cicero/Daxer

Die SPD hat angekündigt, bis zum Wahltag an fünf Millionen Haustüren zu klingeln. 450.000 Klingeln hätten die Bundestagskandidaten und ihre Helfer schon gedrückt, hat Andrea Nahles, die Generalsekretärin vor kurzem verkündet. In Niedersachsen bei der Landtagswahl hat ein SPD-Abgeordneter die Methode erfolgreich angewandt. In Wiesbaden soll so bei der Oberbürgermeisterwahl die CDU gestürzt worden sein. Die SPD inszeniert die Klingelmethode ein wenig als Wundermittel. Und mit Wundermitteln ist es ja so, dass sie immer wichtiger werden, je schwächer der Patient röchelt.

Die Formel als Selbstüberwindung

Wie läuft das nun? Die Formel hat Martin Gerster seinen Parteifreunden in Schulungen und Einzelgesprächen eingeimpft, seit er Andrea Nahles auf einer Autofahrt mal davon erzählte und sie ganz aus dem Häuschen war. Er verrät die Formel, wenn er auch nicht reden kann, mailen geht ja, also:

Regel 1: Freundlich, wertschätzend sein. Zuhören.

Regel 2: Es geht nicht darum, Meinungen zu drehen. Keine endlosen Kontroversen.

Regel 3: Die Leute nicht zu lange aufhalten. Richtwert: Fünf Minuten.

Im Idealfall erzählen die Menschen ihren Nachbarn, Verwandten und Bekannten von dem Besuch, schreibt Gerster. "Dieser Stille-Post-Effekt ist nicht zu unterschätzen". Eigentlich wäre die Klingelei leicht zu kritisieren. Die Politiker schleimen sich kurz vor der Wahl ein, machen sich künstlich klein, kumpeln sich ins Wohnzimmer und versprechen mit einem  Automatiklächeln, dass alles besser wird. Aber im Moment kritisiert niemand das Konzept. Das könnte daran liegen, dass die meisten Menschen die Selbstüberwindung darin sehen.

Machen wir eine Probe. Heute Abend sind Sie eingeladen. Das Haus hat zwei Eingänge, zwei Klingeln, null Klingelschilder. Alles still. Sie können - Option 1 - läuten, das wäre eine 50-Prozent-Chance, einen Unbekannten zu stören, in ein verständnisloses Gesicht zu starren, stupide loszustottern: Äh, ist hier die Party? Nicht? Entschuldigen Sie. Vielmals. Option 2: Sie rufen die Gastgeberin kurz vom Handy aus an. Hey, ich steh vor Deiner Tür!

Politiker im Häuser-Wahlkampf wählen Option 1, sie begeben sich in die Stören-Starren-Stottern-Situation. Sie putzen Klinken. Das Emnid-Instiut hat im Auftrag von Focus ermittelt, dass zwei Drittel der Deutschen Wahlwerbern nicht die Tür öffnen wollen. Wir kaufen nichts. Supermotivation für die SPD.

Mit dabei sind Lollis und das Grundgesetz

Manchmal arrangieren die Mitarbeiter der Politiker lieber vorher einen Wohnzimmertermin, das ist die Softcore Version. Aber selbst Peer Steinbrück klingelt nach Angaben der Partei manchmal überraschend. "Ich bin dieser Spitzenheini von den Sozialdemokraten", hat er laut SPD  an einer Gegensprechanlage in Hilden im Kreis Mettmann gesagt. Die Mächtigen gehen in eine Position der Machtlosigkeit. In eine unangenehme. Um die Situation zu ertragen, hat sich der Kandidat über sich selbst lustig machen müssen.

"Natürlich hatte ich da am Anfang gewissen Hemmungen", mailt Gerster. Tür zu? Rumms? Nein. "Positiv", "Frische Motivation", er schwärmt regelrecht. Dass das Klingeln aber schon eine heikle Situation ist, sieht man, wenn er aufzählt, welche Mitbringsel er so im Sortiment führt. Für die Damen: Rote Rosen. Für die Herren: den Bundesliga-Spielplan. Ansonsten: Lollis, Blumensamen, Streichhölzer, Luftballons, Mini-Ausgaben des Grundgesetzes, Gummibärchen.

Das Prinzip: Der Heini muss was anbieten, dass ich ihn reinlass. Im Grunde verstärken die Mitbringsel die Schwächeposition. Und das ist gut. Diese Politiker, über die man herziehen darf, unbegrenzt lästern kann, denen man alles absprechen darf: dass sie in der Politik ihrer Ideale wegen sind, dass sie ihre eigene Forschungsarbeit vor 33 Jahren ernst genommen haben, dass ihre Bettina sie aus Liebe geheiratet hat; Leute, an die wir Superheldenkriterien anlegen dürfen, die dann aber nur noch Superzombies in der Politplastikwelt von Berlin sind, kurz: die wir nur als Figuren sehen - die stehen plötzlich vor der Tür.

Das Wesentliche im Mittelpunkt: der Mensch

Oft ist die Distanz noch da, sagt Martin Gerster. "Das löst sich dann ganz schnell auf. Sie merken, dass ihr Gesprächspartner ein ganz normaler Zeitgenosse ist, mit Stärken und Schwächen." Ende Juli bei über 30 Grad hat er erstmal ein Glas Wasser bekommen. Manche Leute reden länger mit ihm. Ein Mann, den er in der Garage traf, weinte.

Es könnte die einzige wirklich große Leistung der Sozialdemokraten in diesem Wahlkampf werden. Dass sie die Politik an der Haustür für einen Moment von der Politfigur auf das Wesentliche reduziert haben: den Menschen. Das wäre schon ein Verdienst nach dieser Legislaturperiode, in der sich die Berliner Medien-Polit-Gesellschaft noch ein wenig mehr zur Jagdgesellschaft entwickelt hat. In der Keiler und Hirsch - Halali! - gerühmt und gefeiert werden. Und dann getrieben, erlegt und verspeist.

Georg Löwisch

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