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Joanne (links) ist heute 13. Sie und Michelle-Ange gehen in Delmas 2 ins zweite Jahr der Integrationsklasse. Sie kommen nur selten und schaffen es nicht, den Stoff aufzuholen, um in eine reguläre Klasse wechseln zu können.
© Ingrid Müller

Kindersklaven: Verzweifelte Schwestern

Joanne und Michelle-Ange leben im Slum bei Familien, die nicht ihre sind. Sie müssen arbeiten, damit sie bleiben dürfen. Die 13-jährige Joanne hat Angst, dass sie auf die Straße gesetzt wird.

Joanne atmet schwer. Sie spricht gehetzt, ihre Augen blicken wie abwesend in die Ferne. Sie ist jetzt 13, eine junge Frau, nicht mehr das schmale Kind im orangefarbenen Kleidchen. Damals, ein paar Tage nach dem Beben, stand sie mitten in den Trümmern der kleinen Schule im Slum Wharf Jeremie am Hafen von Port-au-Prince und sang mit betörend klarer Stimme ein Lied. Ihre Stimme stieg wie eine unwirkliche Verheißung aus dem Chaos auf.

Im Sommer 2013 klingt ihre Stimme nach Verzweiflung. Noch immer lebt Joanne als Restavek, als Sklavin - so wie rund 400 000 bis 500 000 Kinder in Haiti. Seit dem Beben sind es nach Expertenschätzung noch mehr als vorher. Joanne und ihre Schwester Michelle-Ange sind von ihrer eigenen Familie in Jacmel weggeschickt worden. Sie leben, wie die anderen Restavek, in einer fremden Familie, meist in Slums. Dort müssen sie den Haushalt in Ordnung halten, damit sie bleiben dürfen. Für die Regierung Martelly hat es offensichtlich keine Prioräität, dieser Tradition ein Ende zu machen, der modernen Sklaverei in dem Land, das Sklaven 1804 befreiten.

Joanne hat Angst. Nicht so sehr vor den Schlägen der „Tante“, wie die Sklavenkinder die Mütter in den neuen Familien nennen. Prügel setzt es immer, wenn den Erwachsenen etwas nicht passt. Joanne hat Angst, dass sie auf die Straße gesetzt wird. Ihrer Schwester Michelle-Ange ist das passiert.

Bis vor ein paar Monaten wohnten die beiden Mädchen zusammen in einer Familie, doch dann gab es Krach. Die anderen Kinder hätten behauptet, die 15-jährige habe sie gehauen, die „Tante“ prügelte sie „mit sehr viel Wut“ und verlangte dann, sie solle Wasser holen. „Ich konnte nicht, mir tat alles weh“, sagt Michelle-Ange. Die „Tante“ habe gesagt, „wenn du nicht Wasser holen kannst, kannst du nicht bleiben“ und sie rausgeworfen, erzählt sie stockend und sehr leise. Michelle-Ange ist größer und kräftiger als die Schwester, ihr Uniformkleid ist am Hals eingerissen, sie bräuchte eigentlich ein größeres. Sie habe noch mehrmals versucht, wieder in die Hütte zurückzukommen, aber die „Tante“ hatte kein Erbarmen. Eine Bekannte sah das und nahm sich ihrer an. Jetzt arbeitet Michelle-Ange für Christella, aber offenbar geht es dort etwas ruhiger zu. Die Ältere der Schwestern trägt Glitzerspängchen, ihre Söckchen haben Rüschen und sie wirkt körperlich besser beieinander als Joanne mit den traurigen Augen. Michelle-Ange wohnt jetzt in Fort Dimanche, einem anderen Slum, der auf den Ruinen eines ehemals berüchtigten Foltergefängnisses entstand.

Doch Joanne will so etwas auf keinen Fall selbst erleben. Würde sie auch jemand finden, der ihr ein Dach über den Kopf bietet, wenn sie gehen müsste? „Da draußen gibt es Vagabunden, die einem sehr weh tun können“, sagt sie und knetet eine Wasserflasche mit beiden Händen. „Sie können dich misshandeln.“ Und „Wenn wir vorbeigehen, fassen sie uns an“. Mehr will sie nicht sagen. Die Schule liegt mitten in Slums, in denen verschiedene Gangs um die Vorherrschaft kämpfen. Auch die Verantwortliche von der Heilsarmee macht nur Andeutungen. Major Sylvaine Mägli sagt, Joanne sei „sexueller Ausbeutung“ ausgesetzt. Die Belästigung fängt schon auf dem Schulhof an, jeder kann es sehen. Eben, als Joanne und ihre Schwester von der Klasse über den Hof in die Bücherei gingen, grapschte ein älterer Schüler ganz ungeniert nach ihren Brüsten.    

Joanne (vorn) und ihre Schwester kurz nach dem Beben im Januar 2010 im Slum Wharf Jeremie in Port-au-Prince.
Joanne (vorn) und ihre Schwester kurz nach dem Beben im Januar 2010 im Slum Wharf Jeremie in Port-au-Prince.
© Ingrid Müller

Jetzt sitzen die Schwestern da, zwischen Holzregalen und ein paar dickleibigen Computern, der Kalender zeigt noch Januar. Als wäre die Zeit stehen geblieben, als die Mädchen voneinander getrennt wurden. Auch heute sind die beiden zu spät gekommen. Beide gehen besuchen das zweite Jahr der Integrationsklasse, in der Kinder den Stoff aufholen, den andere in ihrem Alter längst gelernt haben. Viele in der Klasse mit schmalen Jungs und großen Mädchen kommen aus Familien, die ihre Kinder unregelmäßig zur Schule schicken. Die meisten Restavek gehen mit sechs Jahren noch nicht in die Schule und kommen auch dann unregelmäßig, wenn ihre Familien grundsätzlich eingewilligt haben, dass ihre Sklaven auch lernen dürfen. „Ich bin heute früh am Morgen aufgestanden, habe abgewaschen, die Betten gemacht und ausgefegt“, schildert Joanne ihren Vormittag. Sie habe auf die Kinder der Tante aufpassen müssen und deren Vater sei nicht rechtzeitig heimgekommen, auf den habe sie warten müssen. Um 12 beginnt die Schule. Um die Zeit ist sie aber erst losgekommen. Zu Fuß, denn Geld fürs Tap Tap, einen der lokalen Minibusse, hat sie nicht. Sie braucht eine Stunde, denn sie muss jeden Tag ihre Schwester in Fort Dimanche abholen. Michelle-Ange hat keine Schultasche, jedes Kind muss seine Bücher aber in einer Tasche mitbringen. Es klingt nach Schikane, aber bei Regeln sind Schulen in Haiti eisern. Ohne Tasche keine Schule. Ohne geschlossene Schuhe auch nicht. Auch Joanne ist schon einmal wochenlang nicht gekommen, weil sie keine passenden Schuhe hatte. Major Mägli hat ihr am Ende welche bezahlt.

Kümmern aber sieht anders aus. Das weiß auch Alinx Jean-Baptiste, der Chef der Kindernothilfe in Haiti, der zu dem Gespräch dazu stößt, als Joanne von der täglichen Odyssee erzählt. Er hatte den beiden nach dem Beben einen Platz in der Integrationsklasse besorgt. Ihre Sklavenfamilie war damals in eins der Zeltlager umgezogen, sie hatten wohl gehofft, dass ihnen jemand von den internationalen Helfern ein Haus bauen würde, mutmaßt Jean-Baptiste. Aber sie sind längst zurück in Wharf Jeremie, einem der gefährlichsten Slums von Port-au-Prince, in dem erst kürzlich ein Polizist umgebracht worden ist. In der Schule dort sind rund die Hälfte der Kinder Restavek, sagt der zuständige Pastor Luckner-Guervil. Im College Verena in Delmas 2 sind Joanne und Michelle-Ange zwei von insgesamt rund 1500 Schülern. Das College wird von der der Heilsarmee betrieben und von der Kindernothilfe unterstützt. Beim Beben stürzte ein Teil der Gebäude ein, derzeit lernen die Schüler in Holzbaracken, vor der Tür dreht sich ein überdimensionaler Kran. Am Eingang zeigt eine Bauzeichnung, wie die Schule einmal aussehen soll. 

Alinx Jean-Baptiste schnaubt wütend, zitiert den Psychologen herbei. Ja, er habe gehört, dass die 15-Jährige am Jahresanfang rausgeworfen wurde, aber er habe noch keine Zeit gehabt, sich damit zu beschäftigen, nölt der Mann gelangweilt. Jean-Baptiste ist sauer auf die Partner. „Der Psychologe hier macht nur Papierkram“, zischt er. Zu ihm sagt er: „Solche Fälle sind besonders zu behandeln. Wir sind die Kindernothilfe. Wir sind für die Kinder da. Tu was.“ Doch das beeindruckt den Mann nicht. „Wenn es so schlimm ist, müssen sie die Kinder eben in ein Heim geben.“ Jean-Baptiste verdreht die Augen. „Wie viele Heime sollen das denn für die 400 000 Restavek sein?“ Weil es so viele sind, müssen sie sich mit den Familien arrangieren, sagt Jean-Baptiste. „Die Mädchen sind die unterste Klasse der Armen.“ Sie könnten aber auch nicht zurück zu ihren eigenen Familien aufs Land, die „acht, neun Kinder haben und froh sind, wenn sich jemand anders um eins kümmert. Wenn ein Kind zurückkommt, ist das ein Misserfolg für die Mutter. Sie gibt es dann dem nächsten mit.“ Jean-Baptiste und seine Leute gehen immer wieder in die Sklaven-Familien und versuchen sie zu überzeugen, die Kinder wenigstens regelmäßig in die Schule zu schicken. Mit Sport-Kampagnen und übers Radio werben sie für die Rechte der Kinder. Den Kindern selbst versuchen sie Selbstbewusstsein zu vermitteln. „Jede von ihnen muss lernen, dass sie selbst ein Mensch ist. Viele denken wie Sklaven.“ Jean-Baptiste fordert den Psychologen auf, er solle sofort etwas unternehmen. Der sagt, er habe kein Geld, denn die Chefin sei für mehrere Wochen in Urlaub. Es sind 37 Grad, aber die Atmosphäre wird eisig. „Also gut, Montag um 12 Uhr 30“, versucht der Psychologe sich zu retten. Jean-Baptiste lacht spitz: „Die Kinder haben doch keine Uhr.“

Wie das Versprechen auf Trost hängen diese Plüschtiere am Zaun eines Geschäfts gegenüber vom Eingang der Schule.
Wie das Versprechen auf Trost hängen diese Plüschtiere am Zaun eines Geschäfts gegenüber vom Eingang der Schule.
© Ingrid Müller

Michelle-Ange wird von ihm eine Tasche bekommen und beide Schwestern heute Nachmittag trotz des Zuspätkommens noch etwas zu essen. Auf dem Hof holt der Hausmeister für heute die haitianische Flagge ein, der Kran hinter dem Bauzaun jongliert noch ein großes Stück Metall, gegenüber vom Eingang hängen Stofftiere vor einem kleinen Geschäft. Ist alles auf einem guten Weg?  

Von der schönen neuen Schule werden die beiden Mädchen wohl nicht mehr viel haben. Michelle-Ange ist mit 15 schon recht alt, sie wird nicht mehr in eine normale Klasse wechseln. Die Mitarbeiter werden versuchen, ihr eine Ausbildung zu vermitteln. Als Köchin vielleicht. Sie kann gut Reis mit Bohnen kochen, sagt sie. Sie würde auch gern Polizistin. Joanne möchte Krankenschwester werden: „Ich will Kindern helfen.“ In der kleinen Schule von Pastor Luckner-Guervil am Hafen werden inzwischen 16- bis 18-Jährige ausgebildet. Es sind schnell zu erlernende Berufe,  einfache Schneider- oder Schusterarbeiten. Die ersten Handgriffe lernen sie in den Sommerferien, danach ein Jahr lang immer freitags. Die normale Schule muss weiterlaufen, in den gleichen Räumen.

Wenn Joanne heute Nachmittag heimkommt, muss sie erstmal den Kindern der „Tante“ helfen. Sie wird Hausaufgaben machen, dann Wasser holen. Nachts wird sie auf dem nackten Boden schlafen. Gestern, sagt sie, hat sie dort kein Auge zugemacht, es seien so viele Mücken da gewesen. Sie hat die „Tante“ gebeten, dass sie sie in ihr Bett lässt oder wenigstens zu den anderen Kindern. „Wenn sie mir hilft, kann ich ihr später helfen“, sagt Joanne. Doch es war nichts zu machen. Die „Tante“ habe nur gesagt: „Wenn Du zur Schule gehst, ist das für dich, nicht für mich.“

Singt sie manchmal noch? Nein, sagt Joanne. Sie singt nicht mehr.

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