Sport: Zurück im Glück
Kürzlich noch war Aachen ein Skandalklub, nach dem Sieg gegen Gladbach wartet der Uefa-Pokal
Aachen. Als auch der letzte Helfer von der Geschäftsstelle mit den neuen T-Shirts („Berlin, wir kommen“) eingekleidet war, brachte ein freundlicher Mitarbeiter eine allerletzte Lieferung in die Kabine. „Für die Schiedsrichter“, sagte er im Vorbeigehen. Ja, Edgar Steinborn und seine beiden Assistenten hatten sich die kleine Aufmerksamkeit wirklich verdient. Es lief die vorletzte Minute des DFB-Pokal-Halbfinales zwischen Aachen und Borussia Mönchengladbach, als eine Flanke in Alemannias Strafraum flog und der Aachener Verteidiger George Mbwando die brenzlige Situation mit einer beherzten Faustabwehr bereinigte. Weil Schiedsrichter Steinborn das Handspiel nicht ahndete, blieb es beim 1:0 durch ein Freistoßtor von Ivica Grlic, das dem Zweitligisten Alemannia Aachen den Einzug ins Endspiel von Berlin bescherte.
Als der Aachener Trainer Jörg Berger die Szene im Fernsehstudio begutachtete, sagte er erschrocken: „Das geht ja nicht, in der 89. Minute!“ Schon kurz vorher hatte Erik Meijer den Ball im eigenen Strafraum mit der Hand abgewehrt, seine Aktion war jedoch eher unabsichtlich gewesen. Bei Mbwandos Einsatz sah es anders aus. „21 000 Menschen haben das Handspiel gesehen. Nur der Schiedsrichter nicht“, schimpfte der Gladbacher Sportdirektor Christian Hochstätter. Doch Hochstätter irrte. Steinborn hatte das Handspiel gesehen, aber „ich hab’s als nicht absichtlich bewertet“.
Der eigentlich zwingende Elfmeter hätte den Sieg der Aachener noch einmal in Gefahr gebracht, und doch hatte bis auf Hochstätter kaum jemand das Gefühl, dass das Spiel einen falschen Ausgang genommen hatte. „Wir hatten die ganzen Jahre Pech gehabt“, sagte Alemannias Verteidiger Willi Landgraf, die gute Seele des Vereins, „jetzt hatten wir einmal Glück.“ Die Aachener haben sich in der jüngeren Vergangenheit häufiger verfolgt gefühlt, andererseits scheinen sie aus allen Rückschlägen gestärkt hervorzugehen. Noch am Abend des größten Triumphes seit der Vizemeisterschaft vor 35 Jahren wurde der Verein als Vorbild für die Allgemeinheit vereinnahmt. „Das tut der Stadt gut“, sagte Oberbürgermeister Jürgen Linden. „Alemannia gibt uns allen Schwung.“
In solchen Momenten kann man leicht vergessen, dass die Geschichte der vergangenen drei Jahre eine umfassende chronique scandaleuse gewesen ist. Eine, die von Lug und Betrug erzählt, von einem Schatzmeister, der wegen Steuerhinterziehung in Untersuchungshaft saß, einem Präsidenten, der nach 100 Tagen aus dem Amt geflüchtet ist, einem Spieler, der gedopt war, und von Fans, die den gegnerischen Trainer auf dem Tivoli mit Eisennägeln beschmissen haben. „Gestern noch Skandale“, stand auf einem Transparent, „heute dann das Halbfinale.“ Die Geschichte könnte damit enden, dass die Alemannia demnächst im Europacup spielt. Wenn der Finalgegner Werder Bremen sich für die Champions League qualifiziert, dürfen die Aachener in der nächsten Saison auf jeden Fall im Uefa-Cup antreten.
Selbst ohne die Teilnahme am Europacup hat der Verein im Pokal inklusive Finale vier Millionen Euro eingenommen und damit seine bedrohliche Schuldenlast getilgt. Auf 3,9 Millionen Euro hatte sich der Fehlbetrag summiert, nachdem die Steuerfahndung die Buchführung eingehend geprüft hatte. Der Verein überlebte nur, weil die Finanzbehörde einer Stundung der Steuernachzahlungen zustimmte. Wiederum ein halbes Jahr zuvor haben die Spieler sogar mit Sammelbüchsen in der Aachener Fußgängerzone gestanden, um ihren Arbeitgeber zu retten.
Die sportliche Führung mit Trainer Berger und Sportdirektor Jörg Schmadtke hofft darauf, dass nun auch Mittel vorhanden sind, um den Kader konzeptionell zu verstärken. „Bisher haben wir ohne Geld eine Mannschaft aufgebaut“, sagte Berger. Von denen, die gegen Gladbach auf dem Platz standen, war bei seinem Amtsantritt nur Willi Landgraf Stammspieler, „zwei, drei waren noch dabei, den Rest haben wir geholt“. Manchmal ging das nur, „indem man die Spieler überzeugt, wie schön es in Aachen ist“. Auf Dauer jedoch ist das mühselig, und Berger hat vor anderthalb Jahren überlegt, „ob ich hier weitermache. Heute sage ich, dass es gut war, dass ich weitergemacht habe“.
Noch nie in seiner Karriere hat Jörg Berger in einem Pokalfinale gestanden, und jetzt hat er es mit dem Verein geschafft, der von allen, bei denen er bisher gearbeitet hat, die vermutlich ungünstigsten Voraussetzungen besaß. „Was hier in zweieinhalb Jahren abgelaufen ist, das ist ein Wunder“, sagte Berger, „das können nur die verstehen, die das miterlebt haben.“ Aber selbst den Beteiligten fällt es schwer. Kapitän Karlheinz Pflipsen hat sich schon Anfang des Jahres den Pfingstsamstag als Termin für seine Hochzeit ausgesucht. Die muss er nun verschieben. Am Pfingstsamstag findet das Pokalfinale statt.
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