100. Berliner Sechstagerennen: Zum Runden noch ’ne Runde
Liebling der Massen, Organisator, Fan: Das Berliner Original Otto Ziege hat beim Sechstagerennen schon alles erlebt – am Donnerstag beginnt der Radsport-Klassiker zum 100. Mal.
Erst neulich war das, beim Zahnarzt. Ein Fremder sprach ihn im Wartezimmer an. „Sie sind doch der Ziege“, sagte der Mann. „Waren das noch Zeiten. Damals im Sportpalast, unvergessliche Sechstagerennen habe ich dort miterlebt.“ Für Otto Ziege sind Momente wie diese noch immer etwas Besonderes, seine Augen glänzen: „Ist doch schön, wenn wir den Leuten eine Freude gemacht haben.“
Otto Ziege, dieser Name ist untrennbar mit dem Berliner Sechstagerennen verbunden und gehört genauso dazu wie die Rundenglocke und die Bierpolizei. Wenn am Donnerstag die Jubiläumsausgabe des Radsportklassikers im Velodrom beginnt, wird Ziege allerdings nur noch als Zuschauer dabei sein. Vor zwei Jahren hat er sich aus dem aktiven Geschehen zurückgezogen, bis dahin war Ziege als sportlicher Leiter tätig. Heute wird der 84-Jährige noch immer auf der Straße erkannt. Ziege ist ein Berliner Original, genau wie das Sechstagerennen. Die Veranstaltung wird in diesem Jahr zum hundertsten Mal ausgetragen. „Daran sieht man, welchen Stellenwert das Rennen hat“, sagt Ziege.
Dabei sah es nicht immer so aus, als würde das Berliner Sechstagerennen dieses Jubiläum erreichen. Mehrfach in ihrer Geschichte wurde die Veranstaltung totgesagt, zwischen 1934 und 1949 wegen des Verbots durch die Nazis und noch einmal in der Nachwendezeit von 1990 bis 1997 wurde pausiert. Seitdem findet das Rennen im Velodrom statt. Zuvor waren der Sportpalast und die Deutschlandhalle Austragungsorte. Egal, wo gefahren wurde, eines blieb gleich: Sechstagerennen, das war immer auch Amüsement. Viel essen und mehr trinken. Was nicht immer allen gefiel. „Hier ist die Masse Mensch, hier darf sie’s sein“, schrieb der Tagesspiegel 1965 ironisch unter dem Titel „Sechs-Tage-Trinken mit sportlichem Vorwand“ – und führte weiter aus: „Die Frauen stehen pikiert beiseite; sie haben hier nichts zu bestellen, höchstens ein weiteres Bier für ihren außer Rand und Band geratenen männlichen Begleiter.“
Suff statt Sport? Die Radfahrer werden das etwas anders gesehen haben. Denn die Zweierteams waren damals tatsächlich noch im Wechsel ununterbrochen auf dem Holzoval unterwegs, 145 Stunden insgesamt, also sechs Tage und eine Stunde. Gesprintet wurde, auch das heute unvorstellbar, um eine Armbanduhr im Wert von 400 Mark. An diesem Punkt muss Otto Ziege schmunzeln: „Heute würde wohl niemand mehr für eine Uhr kommen.“ Die Antrittsprämien sind nicht das Einzige, was sich im Laufe der Zeit verändert hat. Es wird längst nicht mehr rund um die Uhr gefahren, die letzten Sprints gehen im Jahr 2011 noch zur BVG-freundlichen Zeit gegen ein Uhr morgens zu Ende, am „Familiensonntag“ sogar bereits um 17 Uhr. Deswegen wird der Distanzrekord der Berliner Richard Huschke und Franz Krupkat aus dem Jahr 1924 wohl für die Ewigkeit sein. Die beiden strampelten in sechs Tagen die unglaubliche Strecke von 4544 Kilometern – was einem Schnitt von 31 Kilometern pro Stunde entspricht.
Das erste Sechstagerennen fand im März 1909 statt, damals noch in den Ausstellungshallen am Zoologischen Garten. Die „Sixdays“ waren ein Trend, der aus den USA kam – seit 1896 war im New Yorker Madison Square Garden schon alljährlich ein sechstägiges Bahnradrennen ausgetragen worden. Ab 1914 sorgte das neu eingeführte „Berliner System“, eine Punktewertung auf Basis von Zwischensprints, für die Entscheidung, wenn zwei oder mehr Teams die gleiche Rundenanzahl hatten. Es wurde genauso zum Markenzeichen wie der Sportpalastwalzer, der seit 1922 zum festen Bestandteil der Sixdays gehört. Überhaupt, die zwanziger Jahre , sie waren eine erste Glanzzeit des Rennens. Das Spektakel war so beliebt, dass es zwischen 1924 und 1933 zwei Mal jährlich stattfand. Auch nach der Unterbrechung während des Krieges hielt die Begeisterung an.
Wenn Ziege an den Start ging, drohte der Sportpalast aus allen Nähten zu platzen. Der deutsche Straßenmeister von 1949 war der Publikumsliebling der Berliner. Gewinnen konnte er das Sechstagerennen allerdings nie. „Nur ein kleiner Makel“, sagt Ziege heute. „Das Miteinander der Fahrer und die tolle Stimmung waren das Wichtigste.“ Als Ziege 1956 vom Rad stieg und sportlicher Leiter wurde, wurden die Niederländer Rik van Steenbergen und Peter Rost oder Patrick Sercu aus Belgien vom Publikum umjubelt. Sie alle gehörten zu den Spitzenfahrern, die Otto Ziege von seiner Tankstelle aus nach Berlin holte. Ziege hatte sich nach seiner Zeit als Radfahrer eine Tankstelle in Charlottenburg gekauft, Ecke Leibniz- und Mommsenstraße. Zwischen Zapfsäulen und Motorenöl plante er das nächste Sechstagerennen und rief aus dem Tankstellenbüro die Fahrer an, um sie für die Veranstaltung zu gewinnen. „Das hat immer gut geklappt“, sagt Ziege. „Ich hatte einen guten Draht zu den Fahrern, alle sind gern gekommen.“ Auch Patrick Sercu, der „Mann mit dem Hammer“, der mit wechselnden Partnern sechs Mal in Berlin triumphierte. Mit Sercu verbindet Ziege noch heute eine tiefe Freundschaft.
Ein ganz besonderes Rennen ist für Ziege die Ausgabe von 1997. Es war das erste Sechstagerennen nach der Wiedervereinigung, in den Jahren zuvor hatte die Veranstaltung nicht stattgefunden. „Da hat es besonders gekribbelt“, erzählt Ziege, der erstmals auch Fahrer aus der ehemaligen DDR einladen konnte. Am Ende konnte mit Olaf Ludwig sogar ein Ostdeutscher den Gesamtsieg feiern. Zu Zeiten der Berliner Mauer wurde im Ostteil der Stadt ebenfalls ein Sechstagerennen ausgetragen. Die Veranstaltung fand in der Werner-Seelenbinder-Halle statt, Kontakt zu den Organisatoren der Ostberliner Sixdays hatte Ziege aber nie.
Wenn Otto Ziege am Donnerstag von den Zuschauerrängen auf das Oval unter ihm schaut, dann betrachtet er in gewisser Weise sein Lebenswerk. Er selbst würde das nie sagen, dafür ist Ziege zu bescheiden. Er ist kein Mann der großen Töne, Kritik kann er dennoch bestimmt anbringen. Dass Jan Ullrich und Andreas Klöden in diesem Jahr als Ehrengäste im Velodrom erscheinen sollen, findet Ziege nicht gut. „Ihre Namen werden von vielen Leuten mit negativen Sachen in Verbindung gebracht.“ Ziege meint Doping, er mag das Wort nicht. In seinen Erinnerungen an den Radsport ist dafür kein Platz.
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