Die Fußball-WM 2014 in Blumenau: Zu Besuch im teutonischen Herzen von Brasilien
Blumenau ist die deutscheste Stadt in Brasilien und vor allem bekannt für das größte Oktoberfest außerhalb von München. Unser WM-Reporter Sven Goldmann hat dort das Spiel Deutschland gegen USA geguckt.
Es ist schon bald halb drei, auf dem Tisch sammeln sich allerlei Flaschen der Marke Bierland, vier Teller und die Reste einer Schlachtplatte, da kommt Bewegung in das Wirtshaus mit dem schönen Namen Biervila. Thomas Müller schießt sein Tor, und die Gäste jubeln, wie das hier so üblich ist, wenn Deutsche Tore schießen. In Blumenau im brasilianischen Bundesstaat Santa Catarina, wo die Straßen mit Fachwerkhäusern geschmückt sind, die Magistrale im Untertitel den Namen Wurststraße trägt und jedes Jahr das größte Oktoberfest außerhalb Münchens gefeiert wird. Nirgendwo ist Brasilien so deutsch wie in Blumenau. Und an keinem Tag ist die Fußball-WM so deutsch wie an diesem letzten Vorrundenspieltag, wenn Joachim Löw mit seiner Mannschaft gegen die vom früheren Nationalspieler und Bundestrainer Jürgen Klinsmann betreuten US-Amerikaner antritt. Grund genug für einen Besuch.
Die Biervila gehört zur Vila Germanica, einer Art teutonischem Disneyland im Norden Blumenaus. Auf der Speisekarte stehen Eisbein, Kasseler, Hackepeter und Schlachtplatte, dazu genau 151 Flaschenbiere, die Hälfte mit deutschen Namen, darunter Perlen wie Opa Bier, Göttlich Weiß und Aecht Schlenkerta Märzen. Am Tisch ganz vorn sitzen drei Jungs, alle haben sie gewaltige Bärte und tragen weiß-schwarze Trikots mit dem Schriftzug Alemanha auf dem Rücken, vorn drei Sterne und darunter das Kürzel ALE. Aus dem Fernseher dröhnt die deutsche Hymne, keiner singt mit. Kurz vor eins, Zeit für eine erste Flasche Bierland Pilsen.
Für Blumenau ist die Fußball-WM touristisch eher uninteressant
Für Blumenau ist die Fußball-WM eher uninteressant. Jedenfalls, was den touristischen Aspekt betrifft. Es gibt ein paar Spiele in Curitiba im benachbarten Bundesstaat Paraná, aber deswegen verirrt sich keiner nach Blumenau. Die große Zeit kommt im Herbst beim Oktoberfest, es ist mit jährlich 600 000 Besuchern Brasiliens größtes Volksfest nach dem Karneval in Rio. „Hat’s auch viele Besucher aus Deutschland“, sagt Adilson Behling, der blonde und blauäugige Mann im Biermuseum an der Rua XV de Novembro, die früher mal Wurststraße hieß. Adilson Behling hat gerade seinen 43. Geburtstag gefeiert, er ist in Blumenau geboren und aufgewachsen, aber natürlich spricht er zu Hause mit Frau und Tochter Deutsch. „Ist aber nicht so einfach nicht“, sagt Behling. „Hier hat’s nicht mehr so viele Deutsche, und unser Wortschatz ist der von vor hundert Jahren. Manchmal muss ich schon aufpassen, denn das neue Deutsch hat’s viele Wörter, was kenn ich nicht.“
Das Eisbein ist nach bester brasilianischer Art frittiert
In der Biervila läuft das Spiel gemächlich an. Die drei Jungs mit den gewaltigen Bärten und den Alemanha-Trikots widmen sich ihrer Schlachtplatte. Das Eisbein ist nach bester brasilianischer Art frittiert, der Rotkohl immerhin rot, und was das Bier betrifft: „Das könnt’s ihr ganz beruhigt trinken“, sagt Adilson Behling, der gute Geist des Blumenauer Biermuseums. Alles gebraut nach dem „Lei de pureza“, wie sie das deutsche Reinheitsgebot hier nennen. Die drei Alemanha-Jungs in der Biervila testen sehr gewissenhaft die Qualität des Bieres, und weil sie sich in der Bewertung offenbar nicht einig sind, müssen ständig neue Tests unternommen werden.
Vor hundert Jahren war Deutsch in Blumenau noch Amtssprache und wurde an 80 von 100 Schulen unterrichtet. Das alles änderte sich schlagartig, als Brasilien 1942 Deutschland den Krieg erklärte. Das war militärisch nicht so furchtbar relevant, für die Deutsch-Brasilianer aber hatte es dramatische Folgen. Sie sprachen jetzt die Sprache des Feindes, die an Schulen nicht mehr unterrichtet werden durfte. Auch Adilson Behlings aus Hamburg eingewanderte Großeltern bekamen den Bann zu spüren. Deutsch sprachen die Deutsch-Brasilianer nur noch, wenn sie unter sich waren.
Heute beherrschen noch geschätzt 20 Prozent der 300 000 Blumenauer das Idiom ihrer Vorfahren, aber nur noch in einigen entlegenen Gehöften ist Deutsch die einzige Sprache. Das führt schon mal zu Problemen, wenn die Kinder später in die Schule kommen, weil sie nämlich kein Wort Portugiesisch verstehen. Das Bildungsprekariat in Südbrasilien spricht Deutsch.
Das Bildungsprekariat in Südbrasilien spricht Deutsch
Um kurz vor halb drei fällt in der Biervila von Blumenau endlich das deutsche Tor. „Mulleer!“, brüllen sie am Tisch ganz vorn, sie klopfen auf den Tisch, was der Kellner als Zeichen versteht und noch eine Schlachtplatte bringt und dazu, das versteht sich ja von selbst, eine neue Runde Bierland Pilsen. Das Bier hat schon immer zu Blumenau gehört, und die Cervejerias, die großen Brauereien, sie gehörten zu den besten und berühmtesten in ganz Brasilien. Heute sind sie fast alle verschwunden, als letzte die Cervejeria Feldmann, in der Heinrich Feldmann sein berühmtes Alpenbräu braute. Die großen Konzerne haben auch Blumenaus Bier entdeckt. „Bierland ist noch in brasilianischem Besitz“, sagt Adilson Behling, aber gerade erst ist die Brauerei Eisenbahn an einen japanischen Konzern verkauft worden. Das ist der Lauf der Zeit und fügt sich ganz gut in die jüngere Geschichte Blumenaus, sie beginnt mit der großen Überschwemmung von 1983.
Der Legende nach hätten die Blumenauer deshalb das brasilianische Oktoberfest erfunden, um möglichst viele Touristen dazu zu bringen, möglichst viel Geld nach Blumenau zu bringen, um die schwer geschädigte Stadt wieder aufzubauen. „Ist nicht ganz richtig“, sagt Adilson Behling. „Die Idee war vorher schon da, aber nach der Überschwemmung war Blumenau so viel im Fernsehen, da hat’s den richtigen Zeitpunkt für das Fest gehabt.“ Für das Oktoberfest haben sie die Vila Germanica gebaut, und das Geschäft läuft so gut, dass die Biervila und die anderen Wirtshäuser das ganze Jahr über offen bleiben. Im Alltag dröhnt hier aus den Lautsprechern deutsches Liedgut mit Versen wie „Das sind nicht 20 Zentimeter, nie im Leben, kleiner Peter“, „Ich will ’ne Frau ohne Arschgeweih“ oder „Du hast die Haare schön“.
Im Alltag dröhnt hier aus den Lautsprechern deutsches Liedgut
Bei der WM reicht es für ein Public Viewing der übersichtlichen Art. Das Spiel geht zu Ende, und die drei Jungs mit den Alemanha-Trikots heben die Gläser auf die Verbrüderungsszenen, die sich auf dem Bildschirm abspielen. Klinsmann herzt Löw und Müller und Mertesacker, und das ist doch ein schöner Anlass für eine neue Runde Bierland Pilsen. „Hat’s schon viele Fans für Deutschland hier“, sagt Adilson Behling vom Biermuseum, aber wenn er jetzt mal ganz ehrlich sein dürfe, „dann ist doch eher Brasilien meine Mannschaft“, auch wenn es ihm nicht gefalle, „dass die Brasilianer so oft auf dem Boden liegen, besonders dieser Neymar, könnte mir nicht denken nicht einen größeren Schauspieler.“
Er selbst halte es ja lieber mit seinem Schützenverein, aber bei der Weltmeisterschaft schauen sie natürlich auch daheim mit der Familie alle zusammen Fußball, „und vielleicht hat’s ja ein Endspiel zwischen Deutschland und Brasilien, aber ich glaube, da gewinnen’s dann die Deutschen“.