Sport: Zittrig und voller Zweifel
Die Spieler sind verunsichert – doch Bundestrainer Jürgen Klinsmann zieht seine Linie durch
Die Trillerpfeife des spanischen Schiedsrichters hatte die erste Halbzeit gerade beendet, die Spieler flüchteten in die Kabine. Jürgen Klinsmann und Joachim Löw aber blieben für ein paar Minuten auf ihrem Platz an der Seitenlinie stehen. Regungslos, die Hände tief in die Hosentaschen vergraben. Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft lag 0:3 gegen Italien hinten, 0:2 hatte es schon nach sieben Spielminuten gestanden. Wo sollte das hier in Florenz noch hinführen? Was sollte der Bundestrainer seinen Spielern gleich in der Kabine erzählen? Sie zusammenstauchen oder trösten, vielleicht gar nicht erst hingehen? Irgendwann ging dann Klinsmann in die Kabine. Eine Halbzeit später hatte sich das 0:3 zu einem Debakel ausgewachsen – 1:4. Und das 100 Tage vor dem WM-Eröffnungsspiel.
In der Halbzeitpause war nicht viel geredet worden, erzählte Michael Ballack hinterher. Das blanke Entsetzen habe geherrscht. Hundert unausgesprochene Fragen schwirrten durch den Raum, aber nicht eine Antwort. Selten war eine deutsche Elf so vorgeführt worden. Der Bremer Mittelfeldspieler Torsten Frings brabbelte nach dem Abpfiff lange geschockt in die Mikrofone. Die Mannschaft habe „katastrophal“ gespielt, langsam müsse man sich zusammenreißen, denn solche Spiele „dürften jetzt eigentlich nicht mehr passieren“. Auf die Frage, ob jetzt alles in Frage gestellt werden müsse, antwortete Frings in der ersten Erregung: „Ja klar, wenn man so abgeschlachtet wird.“
Jürgen Klinsmann aber wird nichts in Frage stellen. Das würde schon seinem Naturell widersprechen. Der Bundestrainer wird seinen eingeschlagenen Weg unbeirrbar fortführen, selbst wenn die Schlagworte seiner neuen Spielphilosophie wie Tempo, Agieren, Aggressivität und Offensive nach so einem Spiel wie ein Hohn klingen. Italien habe seiner Mannschaft eine Lektion erteilt, „aber wir glauben an diese Mannschaft und unsere Arbeit“. Auch wenn er diesen Satz auf Italienisch und Englisch wiederholte, überzeugender wurde er nicht. Vielmehr müsse die Mannschaft „die Brust wieder nach vorne schieben“ und das Negativerlebnis schleunigst „umkrempeln“. Für ihn persönlich heißt das: auf nach Kalifornien. Beim WM-Workshop am Montag und Dienstag in Düsseldorf wird er sich von seinem Assistenten Löw und Manager Oliver Bierhoff vertreten lassen, was selbst die italienischen Journalisten mit Kopfschütteln registrierten. Sie sagten: Klinsmann solle in Deutschland bleiben und endlich seine Arbeit machen.
Davon gibt es reichlich. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass sich die Mannschaft wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückentwickelt hat. Während Klinsmanns Kollege Marcello Lippi in kurzer Zeit die Spielphilosophie der „Squadra azzurra“ umkrempelte und eigentlich genau so spielen lässt, wie es Klinsmann vorschwebt, verhakt sich die deutsche Elf in Ansätzen. Die schnellen und steil in die Spitze gespielten Pässe der Italiener zerlegten die deutsche Hintermannschaft. Mit Mertesacker und Huth amüsierten sich die beiden Stürmer und Torschützen Gilardino und Toni köstlich. Aber es waren nicht kleine individuelle Fehler, die sich unglücklich miteinander verketteten, sondern es war ein kollektives Versagen.
Die Mannschaft, die im Wesentlichen die ist, die die WM angehen soll und noch vor dreieinhalb Monaten ein achtbares 0:0 gegen Frankreich holte, war heillos überfordert. Nicht nur von der Taktik und Technik des Gegners, sondern von der eigenen Zielvorgabe. Klinsmann und Löw wollen zu viel. Einigen Spielern fehlt es an Spielpraxis, an Form und am Spielverständnis untereinander. Das, was die Mannschaft noch beim Confed-Cup 2005 auszeichnete, das offensive Spiel, das zu vielen Torchancen führte, funktioniert nicht mehr. Und das, was die Mannschaft in der jetzigen Phase leisten sollte, die Balance zwischen Offensive und Defensive, funktioniert noch nicht. Das Spiel gegen Italien hatte keine Struktur und keine Organisation. „Wir wollten zu sehr mit Macht zeigen, dass wir als Gastgeber zu den WM-Favoriten gehören können“, sagte Christoph Metzelder. Aber nach wenigen Minuten war „unsere Taktik über den Haufen geworfen“. Das führte dazu, dass schon der erste Pass aus der Abwehr heraus, der wichtigste für den Spielaufbau, zittrig war und voller Zweifel. Die Spieler wirkten erschrocken über die Aussichtslosigkeit ihres Tuns. Am Ende steht ein Resultat, „das man erst einmal schlucken muss“, wie Klinsmann am nächsten Tag in Frankfurt am Main sagte. Und es wird nachwirken, wie Metzelder feststellte: „Diese Situation haben selbst erfahrene Spieler so noch nicht erlebt.“
Michael Ballack schloss Spätfolgen aus. „Wir wissen, dass das nix war“, sagte der Kapitän, der nervös, bisweilen hysterisch wirkte. Die Mannschaft habe die Zweikämpfe verloren, sie sei nie in ihren Rhythmus gekommen und habe sich von Minute zu Minute „mehr ergeben“. Es sei kein Ruck durch die Reihen gegangen. Bei fast allen Spielern, „auch bei mir, ist vieles in Richtung Eckfahne gegangen“, was so viel bedeutete wie wildes Gebolze. Nachdem die Trillerpfeife an diesem Abend ein letztes Mal ertönt war, meldete sich der Stadionsprecher zu Wort: „Italien vier, Deutschland eins – buona notte!“
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