WM 2014 - DFB-Präsident im Interview: Wolfgang Niersbach: "Eine Stimmung wie 1990"
DFB-Präsident Wolfgang Niersbach über die Chancen auf den WM-Titel, Joachim Löws Zukunft, die Kosten der Brasilien-Expedition und den Aufenthaltsort von Franz Beckenbauer beim Finale.
Herr Niersbach, Sie sind für Ihr Fußballwissen bekannt. Ein kleines Quiz: Welche Rückennummer hatte Berti Vogts bei der WM 1970 in Mexiko?
Welche Rückennummer? 1974 hatte er die Zwei. Aber 1970? Da muss ich passen.
Die Sieben. Aus aktuellem Anlass: Wer hat beim WM-Finale 2002 gegen Brasilien den gesperrten Michael Ballack ersetzt?
Wissen Sie, was ich der Mannschaft beim Rückflug vom Viertelfinale aus Rio gesagt habe? Das Finale 2002 war das einzige WM-Spiel zwischen Deutschland und Brasilien. Es sind die einzigen beiden Mannschaften, die seit 1954 bei jeder WM-Endrunde dabei waren – und trotzdem hat es nur dieses eine direkte Duell gegeben. Ich habe übrigens auch gesagt: Rudi Völler hat damals den Fehler gemacht, Oliver Bierhoff zu spät einzuwechseln, sonst wäre es noch 2:2 ausgegangen (lacht). Aber wer hat damals für Ballack gespielt? Da müsste ich die ganze Aufstellung durchgehen. Das dauert mir jetzt zu lange.
Jens Jeremies.
Ich muss gestehen, da wäre ich so schnell nicht drauf gekommen. Wobei ich bei dem Turnier bereits für das WM-O.k. 2006 unterwegs war und nur drei Spiele unserer Mannschaft gesehen habe.
Also gut: Wer wird am 3. September im ersten Spiel nach der WM als Bundestrainer auf der Bank sitzen, wenn die Nationalmannschaft das Halbfinale gegen Brasilien verlieren sollte?
(Lacht) Das ist wirklich leicht, aber ich gestehe, dass die Frage noch nie so originell eingeleitet worden ist. Jogi Löw natürlich.
Wen müssten Sie nach einer Halbfinalniederlage mehr überzeugen, dass es mit dem Bundestrainer weitergeht: Löw oder die Öffentlichkeit?
Wer ist denn die Öffentlichkeit? Die Medien?
Sie wissen doch, dass es bei einer Niederlage gegen Brasilien und dem vierten vergeblichen Versuch mit Löw hieße: Mit dem gewinnt man keine Titel.
Wissen Sie, wer Stand jetzt Weltranglisten-Erster ist? Deutschland. In den letzten 31 Pflichtspielen hat es 28 Siege gegeben, zwei Unentschieden – 4:4 gegen Schweden, 2:2 gegen Ghana – und nur eine Niederlage. Was soll denn ein anderer Trainer noch besser machen? Mit dieser Bilanz ist einem in der Bundesliga schon im Februar der Meistertitel sicher. Wir sind Weltklasse, wir sind Weltspitze – es fehlt nur der letzte Schritt, ein Titel.
Kommt es darauf nicht an?
Für uns zählt vor allem, wie das Verhältnis zwischen Mannschaft und Trainer ist. Und das ist absolut intakt. Schauen Sie sich an, wie sich Jogi nach dem Algerien-Spiel präsentiert hat, als die Kritik aus der Heimat relativ stark war: professionell, ruhig, entspannt, souverän. Das ist wichtig in einer solchen Situation, das überträgt sich sofort auf die Mannschaft. Am Freitag gegen Frankreich hat das Team so gespielt, wie Jogi das vorgelebt hat: fokussiert, konzentriert, ruhig und mit dem nötigen Selbstbewusstsein. Deshalb haben wir im Oktober vergangenen Jahres den Vertrag mit ihm verlängert. Und ich frage mal: Was wäre jetzt nach dem Einzug ins WM-Halbfinale los, wenn wir das nicht getan hätten?
Dann würden jetzt alle schreien: „Warum habt ihr den Vertrag noch nicht verlängert?“
Ich hoffe, das wird auch gedruckt.
Es könnte ja auch der Fall eintreten, dass Deutschland Weltmeister wird und Löw von sich aus …
Die beste Antwort hat er darauf selbst schon mal gegeben und dabei auf einen Kollegen verwiesen. Nachdem Vicente Del Bosque mit Spanien Weltmeister geworden war, hat er gesagt: Jetzt will ich auch Europameister werden.
Angenommen, Sie hätten die Wahl: zweimal hintereinander mit Löw bei der WM das Halbfinale zu erreichen, aber immer zu verlieren. Oder, wie Italien, zweimal in der Vorrunde zu scheitern, dafür aber einmal den Titel zu holen?
Da ist mir die Beständigkeit lieber. Ich kann mir gar nicht ausmalen, was in Deutschland los gewesen wäre, wenn uns das Gleiche passiert wäre wie den Holländern vor zwei Jahren bei der EM. Sie sind als Mitfavorit gehandelt worden und haben alle drei Vorrundenspiele verloren. Niederlagen gehören zum Sport – aber wir haben sehr selten verloren.
Das heißt: Die WM ist für Sie schon mit dem Erreichen des Halbfinales ein Erfolg.
Ja, die Mannschaft hat sich glänzend dargestellt. In den vier Wochen ist nicht das geringste interne Problem aufgetreten.
Das lässt sich der Verband ja auch einiges kosten.
Inwiefern?
Der Weltmeister erhält von der Fifa umgerechnet 25,75 Millionen Euro. Sie würden an das Team für diesen Fall rund acht Millionen Euro als Prämie ausbezahlen. Und trotzdem betrüge der Gewinn nur drei Millionen. Das heißt: Den DFB kostet das Unternehmen WM knapp 15 Millionen Euro.
Allein der logistische Aufwand ist in diesem großen Land enorm und kostet viel mehr als bei zurückliegenden Turnieren. Nur ein Beispiel: Wegen der frühen Anstoßzeiten reisen wir bereits zwei Tage vorher in den Spielort. Dadurch entstehen hohe Kosten für die Hotels. Zumal uns die Fifa verpflichtet, für die Nacht nach dem Spiel auch noch zu zahlen.
Aber der Tross ist auch deutlich größer geworden. Inzwischen umfasst er 70 Leute.
Uns ist wichtig, optimale Bedingungen zu schaffen. Eines ist richtig: Wenn wir sieben Länderspiele selber vermarkten könnten, würden wir weit mehr als die 25,75 Millionen Euro von der Fifa einnehmen, bei gleichzeitig deutlich geringeren Kosten. Der wirtschaftliche Aspekt ist hier deshalb nachrangig. Für die WM gibt es ein Sonderbudget, das abgesichert ist. Der Gewinn, den wir mit der Liga teilen, fließt in unseren normalen Haushalt.
"Was soll denn ein anderer Trainer noch besser machen?"
Wann wird aus einem erfolgreichen Turnier ein überragendes?
Wenn wir noch zweimal gewinnen (lacht). Schauen Sie sich doch mal die Viertelfinals an. Die Sieger haben mit einem Tor Unterschied gewonnen, Holland musste ins Elfmeterschießen. Es entscheidet meistens nur eine Kleinigkeit, eine Standardsituation wie der Freistoß vor unserem Tor gegen Frankreich.
Wovon hängt nach Ihrer Erfahrung der ganz große Wurf ab?
Es wird keine Elf Weltmeister, auch keine Vierzehn, sondern nur alle 23. Früher war es ja noch dramatischer, als nur 16 Spieler auf den Spielbericht durften und die restlichen sechs auf der Tribüne saßen. 1990 zum Beispiel gab es eigentlich die Absprache, dass sich Andreas Köpke mit Raimond Aumann als zweiter Torhüter abwechselt. Aus welchen Gründen auch immer saß am Ende nur Aumann auf der Bank. Damals hätte Andi Ärger machen können, er hat es nicht gemacht. Das zeichnet eine Mannschaft aus. Wir sind 1990 Weltmeister geworden, weil wir den Teamspirit hatten. 1994 sind wir es nicht geworden, weil wir ihn nicht hatten.
Obwohl es fast die identische Mannschaft war …
… plus Matthias Sammer und Stefan Effenberg. Aber es hat aus irgendwelchen Gründen nicht gepasst. Deshalb habe ich Roman Weidenfeller vor kurzem unter vier Augen gesagt, wie großartig ich sein Verhalten finde. Bei ihm ist zu spüren, wie gern er hier ist, wie er seine Rolle als Ersatzmann hinter Manuel Neuer angenommen hat.
Haben Sie ein ähnliches Gefühl wie 1990?
Was die Stimmung betrifft, ein klares Ja. Ich bin sogar noch etwas zuversichtlicher. Ich glaube, dass wir es schaffen können. Per Mertesacker ist dafür das beste Beispiel. Er hat hier die ersten vier Spiele bestritten und könnte jetzt beleidigt sein, weil er im Viertelfinale nur auf der Bank saß. Aber er ist einer der Ersten, die in einer Spielunterbrechung aufspringen und ihren Kollegen das Wasser reichen. Per ist ein astreiner Charakter. Im Sport gibt es auch andere Beispiele: Ich habe in meiner Zeit als Journalist einen Ersatztorhüter beim Eishockey erlebt, der ist auf der Bank hochgesprungen, wenn sein Teamkollege ein Tor kassiert hat.
Ist die jetzige Generation nicht schon überreif für den Titel?
Miroslav Klose hat mir gesagt: So nah dran waren wir noch nie. Für ihn ist es mit jetzt 36 Jahren ganz sicher die letzte Chance. Den anderen mit mehr als 100 Länderspielen wie Lukas Podolski, Bastian Schweinsteiger, Philipp Lahm und Per Mertesacker würde ich auch noch eine vierte WM zutrauen. Aber die Stimmung in der Mannschaft ist entschlossen: Wir wollen kein Spiel mehr um den dritten Platz.
Dafür muss die Mannschaft nur gegen Brasilien gewinnen.
Ja – in Brasilien, gegen 200 Millionen Brasilianer. Das ganze Land steht hinter der Mannschaft, noch stärker nach dem tragischen Ausfall von Neymar. Alles ist ausgerichtet auf diesen Titel. Aber ich traue es unserer Mannschaft zu, dass sie die Herausforderung besteht. Sie hat in Wembley gegen England gewonnen oder in Paris gegen Frankreich. Sie hat gezeigt, dass sie sich auch auswärts nicht von einer großen Kulisse beeindrucken lässt.
Ist die Mannschaft entschlossen genug?
Nach dem Sieg über Frankreich habe ich den Spielern gesagt: So, nun belohnt euch selbst! Macht es in der letzten Woche so wie in den vier Wochen bisher. Ich kenne auch frühere Spielergenerationen, alles prima Kerle, die nach einem Spiel wie dem gegen Frankreich gesagt hätten: So, jetzt haben wir uns mal eine Pause verdient. Bei der EM 1988 war das so. Nach dem Gruppensieg hat die Mannschaft auf den Franz …
… Beckenbauer …
… so lange eingeredet, bis er sie hat ziehen lassen. Einige haben es leider etwas übertrieben, und ein paar Tage später ging das Halbfinale gegen Holland verloren.
Haben Sie Franz Beckenbauer eigentlich schon gefragt, ob er zum Finale kommen würde?
Ich habe eben mit ihm telefoniert. Er hat mir erzählt, dass er bei unseren Spielen mit Deutschland-Fahne und Käppi vor dem Fernseher sitzt und sich vorher symbolisch über die Schulter spuckt. Aber er kommt nicht.
Hätten Sie ihn bei einem Finale gerne dabei?
Natürlich. Er hatte ja auch ursprünglich vor, ab dem Halbfinale hier zu sein. Er war von Fifa-Präsident Sepp Blatter persönlich eingeladen worden.
Haben Sie das Gefühl, dass Beckenbauer im Machtkampf Blatters mit der Uefa zwischen die Blöcke geraten ist?
Die Ethikkommission der Fifa arbeitet unabhängig, das akzeptiere und unterstütze ich. Was ich inakzeptabel finde: Über zwei Jahre wurde ermittelt und zwei Tage nach Beginn der WM wird diese Sperre ausgesprochen. Dass Franz einen formalen Fehler gemacht hat, darüber müssen wir nicht reden. Aber diese Reaktion zu diesem Zeitpunkt war einfach überzogen und respektlos.
Vorausgesetzt, die Mannschaft erreicht tatsächlich das Finale: Ist die Fallhöhe dann noch höher?
Leute, wir reden vom WM-Finale! Da kehren die Mannschaften doch in jedem Fall als Gewinner nach Hause zurück. So, wie wir aus Südafrika mit Platz drei als Gewinner zurückgekehrt sind. Es war auch eine erfolgreiche Weltmeisterschaft. Wissen Sie noch, warum uns im Halbfinale Thomas Müller gefehlt hat? Weil er im Viertelfinale gegen Argentinien wegen angeblichen Zeitspiels Gelb gesehen hat. Bei einem Freistoß läuft er an, stoppt noch mal ab – Gelbe Karte, gesperrt. Da kann man vorher noch zehn Wissenschaftler eingestellt haben, die den Gegner noch intensiver beobachten – am Ende hängt es an Kleinigkeiten.
Das Gespräch führten Stefan Hermanns und Michael Rosentritt