Nachruf: Wolfgang Holst: Die blau-graue Eminenz
Der frühere Hertha-Präsident Wolfgang Holst ist gestorben. Berlin verliert einen Kungler, einen Vereinsliebenden, eben ein Original. Ein Nachruf.
Es war zu Beginn dieses Jahrtausends, da kämpfte Wolfgang Holst mit schweren gesundheitlichen Problemen und zwei eifrige Reporter dieser Zeitung hielten die Zeit für gekommen, einen Nachruf vorzubereiten. Als Kronzeugen hatten sie Hanne Weiner ausgesucht. Der frühere Profi von Hertha BSC führte damals schon Holsts ehemalige Kneipe am Bahnhof Zoo. Weiner hatte die Reporter zur Abendstunde eingeladen und als sie den verrauchten Raum betraten und nach dem Chef suchten, fanden sie ihn an der Theke, im Gespräch mit einem älteren Herren mit lauter Stimme und lebhafter Gestik. Wolfgang Holst, das blühende Leben. Die beiden Reporter machten sich schnell und unauffällig aus dem Staub. Ein paar Jahre später, als kaum jemand damit rechnete, hat Holsts Herz doch aufgehört zu schlagen. Am Freitag fand man ihn tot in seiner Wilmersdorfer Wohnung. Wolfgang Holst wurde 88 Jahre alt.
Es ist gerade mal zehn Tage her, da löste Wolfgang Holst durch seine pure Anwesenheit spontane Ovationen bei fast 1000 Herthanern aus. Berlins größter Fußballverein hielt im ICC seine Mitgliederversammlung ab. Holst bestieg die große Bühne, auf die ihn sein Nachnachfolger als Vereinspräsident, Werner Gegenbauer, gerufen hatte. Holst wurde für seine 50-jährige Klubzugehörigkeit geehrt. Da er schon alle erdenklichen Auszeichnungen erhalten hatte, gab es nun den Ehrenschild. Es sollte sein letzter öffentlicher Auftritt bleiben.
Die Basis an den Stammtischen
Wolfgang Holst hat viel beigetragen zu Herthas früherem Image als Skandalnudel. Sein Verständnis von der Führung eines Vereins hatte ihre Basis an den Stammtischen, deren Rückhalt er über Jahrzehnte genoss. Er war das Abziehbild des alten West-Berliner Kunglers, aber auch ein Muster an Vereinsliebe und -treue. Über Jahrzehnte galt er als Berliner Original, aber wer ganz genau hinhörte, der erkannte seinen norddeutschen Akzent. Am 30. Juli 1922 kam er in Rostock zur Welt, sein erstes Herthaspiel sah er 1939, aber dauerhaft nach Berlin verschlug es ihn erst nach dem Krieg.
1960 trat er bei Hertha ein und seinen ersten Job im Vorstand bekam er auf ungewöhnliche und doch für Holst typische Weise. Das war 1962, bei der Mitgliederversammlung ging es um die Wahl zum zweiten Vorsitzenden. Ein Kandidat war schon gefunden, aber weil er keine Zeit hatte, persönlich vorbeizuschauen, hatte er Holst gebeten, eine kleine Rede für ihn zu halten. Es wurde eine kleine große Rede, der Kandidat wurde gewählt, und als später ein neuer Spielausschuss- Obmann bestimmt werden sollte, rief einer in den Saal: „Wir wollen den, der gerade die Rede gehalten hat!“ Ein paar Minuten später war der unbekannte Automatenaufsteller, was man heute Manager nennt. Holst musste sofort ganze Arbeit für seinen Verein leisten. Als der Deutsche Fußball-Bund (DFB) sich daran machte, die Bundesliga einzuführen, antichambrierte er mit der Hertha-Legende Hanne Sobek in der DFB-Zentrale. Hertha war Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre hinter Tasmania nur die Nummer zwei in Berlin. Holst fragte: Was müssen wir tun, um in die Bundesliga zu kommen? Der Mann vom DFB, geschmeichelt vom vorherigen Gespräch mit Sobek, antwortete: „Herr Holst, sehen Sie zu, dass Sie Berliner Meister werden, dann sind Sie dabei.“ Genau so kam es.
Spieler im Kofferraum, Geld im Koffer
Mit dem Manager Holst blieb Hertha zwei Jahre in der Bundesliga, musste dann wegen unerlaubter Prämienzahlungen zwangsweise in die Regionalliga absteigen, erst 1968 gelang die Rückkehr. Holst war es, der seinem Klub die spektakuläre Verpflichtung des Ungarn Zoltan Varga ermöglichte. Varga hatte sich nach den Olympischen Spielen in Mexiko abgesetzt und zunächst Unterschlupf in Belgien gefunden. Holst schmuggelte ihn im Kofferraum über die Grenze und ließ ihn heimlich beim Amateurklub Hellas Nordwest mittrainieren. Nach dem Ablauf der üblichen zweijährigen Sperre spielte Varga für Hertha in der Bundesliga.
Mit seinem Namen, aber auch dem von Wolfgang Holst, ist Herthas Rolle im Bundesligaskandal zu Beginn der siebziger Jahre verbunden. Varga war einer von denen, die sich aus dem großen Geldkoffer aus Bielefeld bedienten, ein paar Stunden nach dem letzten Spiel der Saison 1970/71, das der ungefährdete Tabellendritte Hertha gegen den Abstiegskandidaten Arminia Bielefeld 0:1 verloren hatte.
Ein paar Wochen später reiste Holst mit der Mannschaft ins Trainingslager und bat alle Spieler zum Einzelgespräch. Einer nach dem anderen gestand die Annahme des Geldes aus Bielefeld. Die Transferperiode, in der die Klubs neue Spieler verpflichten konnten, war bereits abgelaufen. „Wäre ich mit meinem Wissen zum DFB gegangen, hätte ich die goldene Verbandsnadel für die Aufklärung des Falles erhalten“, hat Holst später einmal erzählt. „Aber die gesamte Mannschaft wäre gesperrt worden, das hätte den sicheren Abstieg bedeutet.“ Holst spielte auf Zeit, zögerte die Aussage der Berliner vor dem DFB immer weiter hinaus, bis ins Frühjahr 1972. Fast die gesamte Mannschaft wurde gesperrt, Hertha beendete die Saison mit Ersatz- und Juniorenspielern. Im Rahmen einer groß angelegten Artikelserie schilderte der „Spiegel“ 1972 genau Holsts Rolle in dem Skandal – und wies auch auf dessen Nazi-Vergangenheit als Oberjunker der SS-Leibstandarte hin.
Erich Beer: „Wolfgang Holst war Herthas letzte Legende“
Erich Beer, der am Donnerstag seinen 64. Geburtstag feierte, verbindet hauptsächlich positive Erinnerungen mit Holst. „Wenn er nicht gewesen wäre, wäre der Bundesligaskandal das Ende von Hertha gewesen“, sagt der frühere Nationalspieler. „Wolfgang Holst war Herthas letzte Legende.“ Holst war es, der Beer 1971 von Rot-Weiss Essen zur Hertha holte. Eigentlich hatte sich der Mittelfeldspieler schon mit Bayern München geeinigt, doch Holst überredete Beer, sofort nach Berlin zu fliegen. Sie trafen sich in einer Kneipe in der Nähe der Gedächtniskirche, und noch am selben Abend unterschrieb Beer bei Hertha. Holst hatte so lange auf ihn eingeredet, bis er gar nicht anders konnte: Hertha sei der kommende Verein, habe einen Zuschauerschnitt wie kein anderer Bundesligist und werde in den nächsten zwei, drei Jahren ganz bestimmt Deutscher Meister. „Das war seine Art“, sagt Beer.
Die Folgen des Bundesliga-Skandals machten Holsts schöne Pläne zunichte, auch wenn die Strafen für die beteiligten Spieler milde ausfielen: 15 000 Mark Geldbuße und zwei Jahre Sperre. Im November 1973 wurden alle begnadigt. Der Verein aber reagierte so konsequent wie selten in seiner Geschichte. Kein einziger der Skandalsünder lief je wieder für Hertha auf. Der damalige DFB-Chefankläger wetterte: „Es gab die aktiven Manipulatoren und die Vernebler. Holst war der größte Nebelwerfer, den werde ich bis ans Lebensende sperren.“ Es wurden fünf Jahre, in denen Holst offiziell keine Vereinsfunktion wahrnehmen durfte, aber hinter den Kulissen zog der Gastronom weiter an den Fäden. Im Abstiegsjahr 1979 ließ er sich zum Präsidenten wählen und verzieh es sich nie, dass er nach dem Aufstieg 1982 nicht in die Mannschaft investierte. Angeblich hatte ihm 1860 München einen jungen Stürmer angeboten. Holst wollte mit Hertha erstmals so etwas wie wirtschaftliche Seriosität wagen und ließ den Stürmer, einen gewissen Rudi Völler, nach Bremen gehen.
Hoeneß und Holst
Der Rest ist Geschichte, wie auch der zum Scheitern verurteilte Versuch des alten, mitunter etwas starrsinnigen Holst, 1994 noch einmal die Präsidentschaft zu erringen. Doch die Mitglieder, die so oft seinem rhetorischen Talent verfallen waren, verweigerten ihm die Gefolgschaft und wählten Manfred Zemaitat.
In den folgenden Jahren schwand Holsts Einfluss, erst recht, nachdem Dieter Hoeneß Hertha mit viel Geld zu einer neuen Marke aufbaute. Mit Hoeneß hat Holst sich oft in aller Öffentlichkeit gestritten, aber anders als der vor eineinhalb Jahren entmachtete Schwabe hat er den Verein nie verlassen. Hertha BSC war für Holst immer eine Herzensangelegenheit. „Unter dem Abstieg hat er sehr gelitten“, erzählt Erich Beer, der Holst zuletzt im Oktober gesehen hat, beim Länderspiel gegen die Türkei im Olympiastadion. „ Holst wusste immer noch alles von früher, wie wir gespielt haben, gegen wen ich getroffen habe“, sagt Beer. „Geistig war er sehr helle. Phänomenal.“
Als Holst am Dienstagabend vor einer Woche geehrt wurde, erhob sich das Auditorium zum stehenden Applaus. „Liebe Freunde“, hob Holst an und sagte: „Ich war nicht immer der Beste und ich war nicht immer der Erfolgreichste.“ Die wenigen Sätze strengten ihn an. Herthas Mitglieder spürten und honorierten das.