WM 2014 - Unmut in Brasilien: Wo ist die Inspiration der Seleçao geblieben?
Brasilien findet bisher nicht hinein in diese Weltmeisterschaft. Das Volk murrt, weil die Mannschaft uninspirierten Fußball spielt. Die große Sorge des Gastgebers: Kann das Team bestehen gegen Deutschland oder Holland?
Fast hätte es doch noch geklappt. Kurz vor Schluss, als Luiz Gustavo vom linken Flügel einen Freistoß in die Mitte zirkelte, direkt vor den Strafraum und perfekt in den Lauf seines Kapitäns Thiago Silva, der herangestürmt kam mit der Wucht eines brasilianischen Wasserbüffels und den Ball mit der Stirn traf zum vermeintlich sicheren Führungstor. Aber da war noch Guillermo Ochoa, der mexikanische Torwart mit den unglaublichen Reflexen. Ochoa riss die Arme hoch und Thiago Silva ließ seine wieder fallen.
Schreie der Trauer und Enttäuschung zerrissen die Stille in den brasilianischen Bars und Cafés und auf den Straßen, wo sie Fernseher auf Tische oder den nackten Boden gestellt hatten, aber dann war es auch wieder ruhig. Direkt nach dem finalen Pfiff dieses torlosen zweiten Vorrundenspiels der Seleçao zerstreuten sich alle Ansammlungen, in Belo Horizonte, Rio oder Sao Paulo und natürlich auch in Fortaleza, wo das bescheidene Schauspiel zur Vorführung gekommen war.
Maradona nimmt kein Blatt vor den Mund
Im brasilianischen Fernsehen laufen diese Sequenzen der allgemeinen Ernüchterung rauf und runter wie ein Werbespot mit Diego Maradona. Es schwadroniert dabei der Volksheld des Lieblingsfeindes Argentinien über die Großartigkeit seiner Albiceleste, worauf ein brasilianischer Torcedor einfach die Fernbedienung nimmt und Maradona abschaltet. Nach dem faden 0:0 von Fortaleza nun meldete sich der richtige Maradona im venezolanischen Fernsehen zu Wort mit der Bemerkung, er habe keinen Unterschied zwischen beiden Teams gesehen, „wenn die Brasilianer ein WM-Favorit sein wollen, müssen sie sich stark verbessern“. Und: „Ohne Neymar kann Brasilien anscheinend nicht richtig angreifen.“ Neben ihm saß Zico, einst Nummer zehn bei Flamengo und in der Seleçao, und er gab Maradona recht: „Brasilien ist zu sehr von Neymar abhängig.“
Kein Widerspruch regt sich zwischen Fortaleza und Porto Alegre. Ja, Brasilien kommt sehr eindimensional daher. Wenn es denn mal gefährlich wird für den Gegner, hat fast immer der Stürmer vom FC Barcelona den Fuß im Spiel. Neymar war auch gegen Mexiko einer der besseren Brasilianer, aber anders als noch beim 3:1 zum Auftakt gegen Kroatien fehlte ihm dieses Mal das mitreißende Element, die Gabe, ein Spiel mit zwei, drei Bewegungen in eine andere Richtung zu dirigieren. Gegen Kroatien hatte er sich dabei auf die Zuarbeit von Oscar verlassen können, aber von dem war in Fortaleza wenig bis gar nichts zu sehen – und damit immer noch mehr als von Fred, dem Totalausfall mit der Nummer neun auf dem Rücken. Fred ist bei dieser WM bisher nur einmal aufgefallen, mit einem spektakulären Sturz, der Brasilien gegen Kroatien den vorentscheidenden Elfmeter einbrachte.
Von Jogo Bonito keine Spur
„Brasilien immer noch nicht überzeugend“, titelte die auflagenstärkste Zeitung „O Globo“ und konstatierte einen „Mangel an Inspiration“. Das ist ein vernichtendes Urteil über eine Mannschaft, die auf ewig nicht nur dem Erfolg verpflichtet ist, sondern dem schönen Spiel. Jogo bonito heißt das auf dem internationalen Fußballmarkt geschützte Patent, dem sich alle Anstrengungen unterzuordnen haben. Von Jogo bonito ist nichts zu sehen, wie sich ohnehin schwerlich eine Philosophie erkennen lässt, einmal abgesehen von der Hoffnung auf Neymars Gedankenblitze. Er und seine Kollegen redeten sich das Spiel später schön und Mexikos Torwart zum besten der Welt hoch. Erklärungen, mit denen das Volk nicht zufrieden ist.
Kein Brasilianer zweifelt vor dem letzten Gruppenspiel gegen Kamerun ernsthaft am Erreichen des Achtelfinales. Aber dann? Wie will die Seleçao in der entscheidenden Phase bestehen gegen die brillanten Holländer, die filigranen Franzosen, die gnadenlosen Deutschen? Wie sieht der brasilianische Plan aus, ja gibt es überhaupt einen?
Alles andere als der WM-Titel zählt nicht für die Brasilianer, und das bisher Gesehene befördert ihr latentes Misstrauen und Unbehagen. Dass das Land des Fußballs nicht so recht hineinfinden mag in diese WM, liegt nicht nur am Ärger über die Macht der Fifa oder die Verschwendungssucht der eigenen Regierung. Es liegt auch an der Art und Weise, wie das Land des Fußballs Fußball spielt.