Sixdays-Legende Wolfgang Schulze: "Wir schliefen im Keller bei den Heizungsrohren"
Verrauchte Hallen, kuriose Prämien: Wolfgang Schulze hat 135 Sechstagerennen bestritten. Im Interview spricht er über wilde Berliner Zeiten.
Herr Schulze, am Donnerstag startet im Velodrom das 108. Berliner Sechstagerennen. Sie sind noch im Sportpalast gefahren, der 1973 abgerissen worden ist. Welche Erinnerungen haben Sie an die Halle?
Die Stimmung war bombastisch. Die hygienischen Bedingungen auf den Toiletten weniger. Und die Zuschauer haben kräftig gequalmt. Es war so verraucht, dass wir von unten nicht die oberen Ränge sahen. Wenn die Fenster aufgemacht wurden, war es saukalt. Fast jedes Jahr haben sich ein oder zwei Fahrer eine Lungenentzündung geholt.
Wie waren die Bedingungen in der Deutschlandhalle, wo auch jährlich ein Sechstagerennen stattfand?
Deutlich besser. Die Kabinen an der Bahn beispielsweise waren viel größer. Manche hatten sogar Fenster. Diese Kabinen bekamen Stars wie Patrick Sercu…
…der bis heute erfolgreichste Sechstagefahrer. Sie sind ab den frühen 60er Jahren Sechstagerennen gefahren. Da gingen die Veranstaltungen rund um die Uhr.
Vor meiner aktiven Zeit musste immer ein Fahrer auf der Bahn sein. Selbst während der Neutralisation. Später konnten alle etwas länger am Stück schlafen. Im Sportpalast haben wir in einem Abrisshaus im Hof geschlafen. In unseren Verträgen stand, dass wir den Veranstaltungsort sechs Tage nicht verlassen durften. Auch nicht, als das Rennen neutralisiert war.
Vom frühen Morgen bis mittags.
Anfangs hatten wir Schlafplätze im Keller bei den Heizungsrohren. Später in dem Haus im Hof. Damals hat mich das nicht gestört. Ich war ganz andere Dinge gewohnt. Ich bin nach dem Zweiten Weltkrieg in Berlin aufgewachsen, wir haben in Ruinen gespielt und ich habe im Wald kiloweise Eicheln und Steinpilze gesammelt und mit dem Fahrrad nach Hause gebracht.
War der Schlaf erholsam?
Ich hatte das Glück, dass ich sofort eingeschlafen bin. Wegen meiner Schnarcherei haben andere Fahrer öfter mit Latschen geworfen. Das weiß ich nur aus Erzählungen. Ein weiterer Vorteil war, dass ich gut essen konnte.
Das müssen Sie bitte kurz erläutern.
Manche haben einfach nichts runtergekriegt. Wir hatten ja nicht viel Zeit. Irgendwann ging bei denen nichts mehr.
Auf wie viele Rennen kamen Sie in Berlin insgesamt?
25. Zusammengerechnet war ich fünf Monate auf der Bahn.
Haben Sie alle beendet?
Nein. Im Sportpalast war die Bahn sehr holprig. Einmal hatte ich schlimme Sitzbeschwerden, eine Harnröhrenentzündung. Ich musste aufgeben. Das andere Mal lag ich mit Sigi Renz in Führung. Auf einmal kommt es mitten in der Nacht zu einer Jagd. Wir haben den Favoriten Peter Post/Rudi Altig viele Runden abgenommen. Plötzlich stieg Renz vom Rad. Irgendetwas hatte ihn gestört. In der Presse hieß es, wir hätten uns über unsere Strategie gestritten. Aber in einer Jagd spricht man nicht groß. Da war kein Streit. So war Sigi manchmal.
Wie war damals die Bezahlung?
Zu Anfang habe ich pro Nacht 450 D-Mark bekommen. Davon musste ich alles kaufen: Rennmaschine, Hosen. Ich musste auch meine Mechaniker bezahlen. Es blieben 1800 D-Mark. Das war hart verdientes Geld, seinerzeit aber auch viel Geld. Als ich Mitte der 50er Jahre meine Klempnerlehre gemacht habe, habe ich 50 D-Mark verdient. Im Monat.
Die Medien berichteten über ein Ungleichgewicht bezüglich der Renngagen.
Meine ist im Laufe der Jahre auf 1500 DM pro Nacht gestiegen. Aber die Stars aus dem Ausland haben immer mehr bekommen als wir. Einmal hieß es vom Veranstalter, es gebe kurzfristig ein „Kriterium der Asse“ mit vier Fahrern. Auch mit mir. Ich meinte nur: „Ich fahre höchstens beim ‚Kriterium der Pfeifen'. So werde ich auch bezahlt.“
Es gab zusätzliche Prämien. Was war das?
Manchmal ist ein Zuschauer nachts nach einigen Bieren zum Veranstalter gegangen und hat 300 DM als Prämie für einen Sprint ausgelobt. Die offiziellen Siegprämien lagen bei bis zu 10 000 DM. Dazu kamen Sachpreise wie Reisen, Autos, reichlich Flaschen Wodka oder ein Bügelautomat.
Ein Bügelautomat ist eher sperrig.
Ich bin manchmal direkt nach dem Ende in Berlin ins Auto gestiegen und zur nächsten Veranstaltung gefahren. Manche Prämien konnte ich schlecht mitnehmen. Mit der Zeit fanden sich Leute, die uns vor der Halle die Sachen für den halben Preis abgekauft haben. Damit hatten alle etwas davon.
Seit 1997 wird im Velodrom gefahren. Besuchen Sie das Sechstagerennen?
Das letzte Mal vor zehn Jahren. Im Vergleich zu früher hat sich alles geändert. Das ist der Wandel der Zeit, für mich ist das allerdings nichts mehr. Der Abend besteht aus viel zu vielen Siegerehrungen und zu wenigen Jagden.
Sebastian Schlichting