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Ballack und Boateng: Wie Pech und Schwefel

Er war der prägende Spieler seiner Generation. In Südafrika wollte Michael Ballack seine Karriere endlich mit einem großen Titel krönen. Einer kam ihm dazwischen. Ihm gehört die Zukunft, hieß es einst auch über Kevin-Prince Boateng. Eine Geschichte, zwei Wege.

Für einen Moment sieht es so aus, als würde Joachim Löw weggepustet werden, so stürmt es vom offenen Meer rüber. Der Bundestrainer findet Halt hinter einem Haus, hinter dem auch schon 70 Medienleute lauern. Löw schiebt sich immer wieder die Haare aus dem Gesicht, die Kameraleute ringen mit den dreibeinigen Untergestellen und die Reporter vom Fernsehen schieben ihre Mikrofone wie Maschinenpistolen dem Bundestrainer unters Kinn. Und über allen schwebt die Nachricht, die Deutschland schockt: Die Fußball-Weltmeisterschaft findet ohne Michael Ballack statt.

Die Nachricht hat aus der Münchner Praxis von Hans Müller-Wohlfahrt den Weg ins stürmische Sizilien gefunden, wo Löw die deutsche Nationalmannschaft auf die WM in Südafrika einstimmen will. Der Mannschaftsarzt hat beim Mannschaftskapitän Schwerwiegendes diagnostiziert: einen Riss des Innenbandes und einen Teilriss des vorderen Syndesmosebandes im Sprunggelenk des rechten Fußes. Folgen eines üblen Trittes, ausgeteilt von einem, der mal Ballacks Nachfolger werden wollte. Kevin-Prince Boateng, 24 Jahre alt, geboren in Berlin und zurzeit angestellt in Portsmouth, galt noch vor ein paar Jahren als die Zukunft des deutschen Fußballs. Seit Samstag wird er in vielen Internet-Foren als Staatsfeind Nummer eins geächtet. Das britische Boulevardblatt „Sun“ formuliert: „Boateng läuft Gefahr, eine Hassfigur in Deutschland zu werden.“ Er selbst sagt nichts. Kevin-Prince Boateng ist zunächst abgetaucht und für niemanden zu sprechen. Dann lässt er doch noch per „Sport Bild“ ausrichten: „Es tut mir leid. Es war keine Absicht.“

Montagnachmittag auf dem Flughafen von Palermo, eine Überraschung: Michael Ballack fliegt aus München ein, er will ein paar Tage mit der Mannschaft in Sizilien verbringen. Der Bundestrainer freut sich über diese Geste, er sagt aber auch, dass zurzeit eine andere Gefühlslage überwiegt. „Wir sind alle sehr, sehr traurig“, sagt Joachim Löw. „Michael ist unser Kapitän, und in den entscheidenden Spielen hat er immer eine tragende Rolle gespielt.“ Der Wind trägt seine Worte fort. Was bleibt, ist ein mulmiges Gefühl.

Für die deutschen Fußballfans ist es ein trauriger Tag, für Michael Ballack aber ein tragischer. Er ist der einzige deutsche Spieler von Weltformat und hat die Nationalmannschaft ein Jahrzehnt geprägt, aber seinen großen Traum wird er nicht verwirklichen können. Es ist der Traum von einem großen internationalen Titel. Nationale hat er in Deutschland und England so viele gesammelt wie ganz wenige vor ihm. Mit dem 1. FC Kaiserslautern, Bayern München und dem FC Chelsea. Aber die Krönung mit der Nationalmannschaft fehlt ihm. Michael Ballack wird als der große Unvollendete in die deutsche Fußballgeschichte eingehen.

Die Zeit rennt ihm davon. Im September feiert er seinen 34. Geburtstag, und eigentlich kann man sich die Nationalmannschaft ohne ihn gar nicht vorstellen. 98 Länderspiele hat Ballack gemacht, er führte die Mannschaft an, die zweite Plätze bei Welt- und Europameisterschaft erspielte. Mit seiner Athletik, Zweikampfhärte, Schusstechnik und seinem Kopfballspiel ist er, was Trainer einen kompletten Spieler nennen. Und er ist der einzige Deutsche, den die Gegner wirklich fürchten. Ballack hat eine natürliche Präsenz, sie wirkt wie selbstverständlich und strahlt auf seine Mitspieler. Er bestimmt den Rhythmus, beschleunigt oder verlangsamt das Spiel. Seine Mitspieler orientieren sich an ihm. Sie registrieren, wann und warum er sich mit Schiedsrichtern anlegt, wann und warum er sich in Zweikämpfe wirft. Sie verstehen seine Signale, wenn er den Ball einfach nur treibt oder mit langen Pässen die Räume öffnet. Er ist die Figur, die das Spiel in seinem Zentrum zusammenhält. Oliver Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft, hat mal gesagt: „Michael ist ein Leader. Er hat das große Bild im Kopf, er muss die Mannschaft führen.“

So ähnlich hat sich auch Kevin-Prince Boateng immer gesehen. Aber das Problem mit ihm sei, sagen viele, dass er schneller ein Star werden wollte als ein guter Fußballspieler. Er ist im Berliner Problembezirk Wedding aufgewachsen, seine ersten Tricks am Ball führte er in Gummistiefeln vor. Er beherrscht den Ball mit beiden Füßen perfekt, und seine Spielübersicht lässt sich durchaus mit einem Radar vergleichen. Er kann nach links schauen und den Ball zentimetergenau nach rechts seinem Mitspieler auf den Fuß spielen. Wie Ballack bringt auch Kevin-Prince Boateng alles mit, was ein perfekter Fußballspieler braucht.

Boateng ist 18 Jahre alt, als er in der Bundesliga mit Hertha BSC zum ersten Mal auf Michael Ballack trifft. Der ist beim FC Bayern schon ein Weltstar und steht vor dem Absprung nach London. Einmal tritt er dem jungen Berliner auf den Fuß, Boateng fasst das als Provokation auf, er hat schon die Gelbe Karte gesehen, wenn er sich jetzt gehen lässt, fliegt er vom Platz. „Ich habe mich zusammengerissen und nur noch einen Spruch gelassen“, sagt Boateng nach dem Spiel, und: „Ich habe mich unter Kontrolle.“ Ein Reporter will wissen, ob er Deutschland zur WM 2010 führen werde. Boateng fragt zurück: „Wieso erst 2010?“

Bei der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland aber spielt Kevin-Prince Boateng keine Rolle. Der große Star ist Michael Ballack, Bundestrainer Jürgen Klinsmann verpasst ihm den Kampfnamen „ Capitano“, und es ist vor allem seiner Spielkunst zu verdanken, dass die schwächer eingeschätzten Deutschen ihr Sommermärchen mit Platz drei abschließen. Nach der WM wechselt er zum Londoner Nobelklub FC Chelsea. Boateng, bei Hertha BSC wegen zunehmender Eskapaden nicht mehr wohlgelitten, folgt ihm ein Jahr später nach London. Für knapp acht Millionen Euro geht er zu den eher bodenständigen Hotspurs in Tottenham. Hier, im Norden der Stadt, sieht es in manchen Ecken sehr viel mehr nach Ghetto aus als an der vergleichsweise idyllischen Weddinger Pankstraße, wo der Sohn einer Deutschen und eines Ghanaers aufgewachsen ist.

Dennoch wird Boateng mit großem Bohei als Berliner Ghetto-Kid angekündigt. Die britischen Reporter sind begeistert von Boatengs erstem Auftritt auf der Insel: Hier formuliert mal kein PR-Profi seine diplomatisch vorgewaschenen Sätze. Boateng zeigt seine Tattoos: die Umrisse Afrikas („da stamme ich her“), die Umrisse Berlins („meine Heimatstadt“) und die Frau mit dem Gewehr („meine Frau, wir haben gerade geheiratet, sie erschießt mich, weil wir keine Flitterwochen hatten“). Er erzählt vom Wedding: „Ohne den Fußball wäre ich wahrscheinlich kriminell geworden.“ Seine Pläne in England? Er wolle sich „gegen Superstars wie John Terry profilieren“, um den Sprung in die deutsche Nationalmannschaft zu schaffen.

Am nächsten Tag ist die Geschichte vom ambitionierten Ghetto-Kid in den Zeitungen nachzulesen und der Wedding für die Briten das Soweto Berlins. Über den Fußballspieler Boateng wird nicht so viel geschrieben. Er sitzt manchmal auf der Ersatzbank der Profis, öfter spielt er in der Reservemannschaft, und noch häufiger ist er im Londoner Nachtleben unterwegs. Bald heißt es über Boateng: „Er denkt, er sei Lionel Messi“, der beste Fußballspieler der Welt. Den Durchbruch schafft er nie. Die Spurs verleihen Boateng nach Dortmund, wo er vor allem durch drei Tätlichkeiten auffällt. Zwischendurch schaut er mal in Berlin vorbei beim Geburtstag seines alten Hertha-Spezis Patrick Ebert. Es ist eine fröhliche und vor allem feuchte Feier. Auf dem Heimweg in den frühen Morgenstunden werden die beiden von einer Polizeistreife gestoppt. Bis heute ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen schwerer Sachbeschädigung an mehreren Autos.

Boateng wäre gern in der Bundesliga geblieben, aber die klamme Borussia aus Dortmund kann sich eine weitere Verpflichtung nicht leisten. Der Berliner muss zurück auf die Insel und landet beim Pleiteklub und Absteiger Portsmouth. Und hier kreuzen sich die Wege des Unvollendeten und des Unbezähmbaren erneut. Am Samstagnachmittag im Wembleystadion, der Weihestätte des englischen Fußballs. Ballacks FC Chelsea spielt im Pokalfinale gegen Portsmouth und Kevin-Prince Boateng, der auf der größten aller Bühnen vorspielen will, um sich für einen neuen Klub zu empfehlen.

Er empfiehlt sich wieder mal vor allem als Rowdy. Obwohl es eine Vorgeschichte gibt zu dem Tritt, der den Karrieren beider Beteiligten wohl irreparablen Schaden zufügt. Es ist ein Gewühl, wie es öfter im Fußball vorkommt, und plötzlich landet Ballacks Hand in Boatengs Gesicht. Eine Provokation, so wie damals in München, als der Weltstar dem 18-Jährigen auf den Fuß trat. Doch dieses Mal hat Boateng sich nicht im Griff. Ein paar Minuten später kommt Ballack an den Ball, er hat ihn längst weitergespielt und plant in Gedanken schon den nächsten Zug, da kommt Boateng angeflogen. Mit der ausgestreckten rechten Sohle tritt er gegen Ballacks Knöchel, der linke Fuß rammt hinterher, und noch während das Opfer stürzt, hebt der Täter unschuldsheischend den Arm. Ballack humpelt noch ein paar Minuten über den Platz, dann muss er raus, die Siegerehrung in der königlichen Loge absolviert er in Badelatschen. Nein, Boateng habe sich nicht entschuldigt, sagt Ballack später, und sein Tonfall lässt darauf schließen, dass er eine Entschuldigung auch nicht akzeptieren würde. Ob das ein Foul mit Absicht gewesen sei? Aber sicher doch, sagt Ballacks angewiderter Blick.

Am nächsten Tag ist in Deutschland die Hölle los. Die Fußball-Nation wertet Boatengs Tritt gegen Ballack als ein Foul gegen das ganze Land. Es gibt nämlich noch eine zweite Ebene in dieser Geschichte. Kevin-Prince Boateng, vom Deutschen Fußball-Bund wegen ungezählter Disziplinlosigkeiten verschmäht, wird bei der Weltmeisterschaft in Südafrika für Ghana spielen, die Heimat seines Vaters und Vorrundengegner der deutschen Mannschaft. An diesem Punkt wird das Durcheinander komplett: Zum deutschen Aufgebot zählt auch Kevins jüngerer Bruder Jerome. Bundestrainer Joachim Löw hat sich nach der schlechten Nachricht in Sachen Ballack gleich mit Jerome Boateng zusammengesetzt. „Ich habe ihm gesagt, dass wir absolut vorbehaltlos zu ihm stehen“, sagt Löw. „Er ist zwar Familienmitglied, aber er ist völlig unbeteiligt. Ich bitte alle, ihn in die Sache nicht hineinzuziehen.“

Jerome Boateng ist ein eher stiller Zeitgenosse. Er hat früher auch für Hertha BSC gespielt, später beim Hamburger SV Karriere gemacht und in der kommenden Saison wird er wahrscheinlich ebenfalls nach England wechseln, zu Manchester City. Der Vertrag seines Bruders Kevin-Prince in Portsmouth läuft aus. Der Verein ist pleite, Boateng wäre wohl gern nach Deutschland zurückgegangen, aber hier dürfte er nach dem Tritt kaum noch zu vermitteln sein.

Und Michael Ballack? Hätte Chelsea nach dem Double mit Triumphen in Meisterschaft und Pokal vielleicht verlassen. Es wäre die nächste, vielleicht größte Herausforderung in seinem Fußballleben gewesen. Als er nach der letzten WM auf die Insel wechselte, war er der Wunschspieler von Trainer José Mourinho. Der trainiert mittlerweile Inter Mailand und hat gerade erst gesagt, wie gern er sein Team mit Ballack verstärken würde. Aber das war vor Samstag, als sich im Wembley-Stadion zum vorerst letzten Mal die Lebenswege von Michael Ballack und Kevin-Prince Boateng kreuzten.

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