Erster Meistertitel in England nach 30 Jahren: Wie Jürgen Klopp den Mythos FC Liverpool neu belebte
Liverpool feiert die erste Fußballmeisterschaft seit 1990. Möglich gemacht hat das Jürgen Klopp, dem deutschen Trainer würden sie am liebsten eine Statue bauen.
Als die Anfield Road schon rot leuchtet, plädiert Jürgen Klopp für ein bisschen Zurückhaltung. Die Liverpool-Fans sollen zu Hause bleiben, sagt er am späten Donnerstagabend im Fernsehsender Sky Sports. Der Titel, diese lang ersehnte 19. englische Meisterschaft, sei „für euch. Aber ich hoffe, ihr bleibt zu Hause. Geht vor eure Tür, vielleicht, aber bleibt zu Hause.“
Die Liverpooler, die Klopp ansonsten bedingungslos vertrauen und auf ihn hören, halten sich nicht an seinen Rat. Zu Tausenden strömen sie zum Stadion an der Anfield Road, singen, tanzen, zünden bengalische Feuer, liegen sich in den Armen. Sie klettern auf die Backsteinmauer und die eisernen Eingangstore, die den Namen großer Liverpool-Trainer der Vergangenheit tragen: Bill Shankly, Bob Paisley. Es ist gut möglich, dass ein solches Stadiontor bald auch Jürgen Klopp gewidmet wird.
Die Pandemie? In diesem Augenblick des Triumphs völlig egal. Und Klopp, dieser grinsende Messias aus Deutschland, der in dieser Nacht als Fußballtrainer in der britischen Hafenstadt endgültig unsterblich wird, muss einsehen, dass sein Wort wohl doch nicht immer Gesetz ist.
Weil Manchester City an jenem Abend mit 1:2 gegen Chelsea verliert, wird Liverpool Englischer Meister, zum ersten Mal seit 30 Jahren. Der ikonische Verein, der den englischen Fußball einst so erdrückend dominierte, ist endlich wieder ganz oben. In den drei Jahrzehnten zuvor ist dieser 19. Meistertitel immer mehr zur Obsession geworden, hat fast mythische Züge angenommen. Jetzt ist er endlich Realität. Möglich gemacht, darin ist sich die Fußballwelt einig, hat das Jürgen Klopp.
In England, wo die Coronavirus-Fallzahlen wochenlang hoch blieben, gelten noch strengere Maßnahmen als hierzulande. Die Kneipen bleiben bis nächste Woche noch geschlossen, und in den vergangenen Wochen trauerten viele Fußballfans um die Party-Stimmung, die ihnen damit genommen wurde. Am Donnerstag lassen sie den Frust endlich raus. Den der zurückliegenden drei Monate, aber auch den der vergangenen drei Jahrzehnte.
Schon vor wenigen Tagen verlangte Liverpool-Legende Steven Gerrard eine Statue zu Ehren von Klopp. „Im Fußball warten wir normalerweise, bis die Leute alt werden, aber ich weiß, dass das bei Liverpool nicht passieren wird“, sagte Gerrard dem Online-Portal „The Athletic“. Wenn Klopp den Meistertitel liefere, „sollten sie mit der Statue schon anfangen“.
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Während die Fans auf die Straßen strömen, versucht Klopp in einem nahe liegenden Golfklub seine eigene Emotionen unter Kontrolle zu bringen. Hier hat er gemeinsam mit der Mannschaft die Partie Chelsea gegen Manchester verfolgt, Liverpool selbst hat bereits am Dienstag gespielt und seinen Vorsprung ausgebaut. Natürlich muss der Meistertrainer jetzt ins Fernsehen und wird in eine Gesprächsrunde geschaltet.
"Ich hätte nie geahnt, dass es sich so anfühlen würde"
Klopp spricht von der ruhmreichen Geschichte des Vereins, dem unermüdlichen Einsatz seiner Spieler. Dann gerät er ins Stocken. „Ehrlich gesagt habe ich keine Worte“, sagt er und schluckt. Es ist, als ob ihm erst jetzt klar wird, wie groß der Druck und die Erwartungen waren. „Ich bin völlig überwältigt. Ich hätte nie geahnt, dass es sich so anfühlen würde“, sagt er noch, die Tränen sind längst nicht mehr aufzuhalten. Dann steht er auf und bricht das Interview ab: „Sorry, meine Herren.“
Niemand nimmt Jürgen Klopp das übel. Auf dem Bildschirm reden jene Herren, allesamt Vereinslegenden aus den goldenen Jahren, einfach weiter über den Deutschen, der alles verändert hat. „Er war fantastisch, er verkörpert alles, wofür der FC Liverpool steht“, sagt der 69-jährige Kenny Dalglish, Liverpools letzter Meistertrainer.
Phil Thompson, der als Spieler sieben Meistertitel mit den „Reds“ gewann, versucht, die Bedeutung dieses Moments zu erklären. „Liverpool hat die Champions League gewonnen, aber hier geht alles um den Meistertitel. Das ist eine Last für jeden einzelnen, und viele Trainer mussten sie tragen.“
Die schreckliche Last ist immer noch da
Jürgen Klopp hat Liverpool von dieser Last befreit. Als er 2015 ankommt, beginnt sich im Verein bereits etwas zu wenden. Ein Jahr zuvor haben die Roten unter Brendan Rodgers den Meistertitel knapp und auf tragische Art und Weise verpasst. Doch die Dominanz des großen Rivalen Manchester United ist gerade zu Ende. Mit einer neuen, jungen Generation einheimischer Spieler ist es damals durchaus denkbar, dass Liverpool dieses Vakuum füllen könnte.
Nur ist diese schreckliche Last – der fehlende Titel – immer noch da. Rodgers, aber auch viele seiner Vorgänger sind unter ihr zusammengebrochen. Der Druck legt die besten Mannschaften lahm.
Und auch Klopp hat darunter gelitten. Vor allem in seinen ersten zwei Saisons musste er für die mangelnde Konstanz und wacklige Abwehr seiner Mannschaft jede Menge Kritik einstecken. Im Mai 2018, nach dem verlorenen Pokalendspiel, wurden die kritischen Stimmen lauter.
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Ein paar Monate später erklärte der frühere Liverpool-Spieler John Toshack, dass Klopp bei einer weiteren Saison ohne Titel gefeuert würde. Im darauffolgenden Jahr entwickelte sich Liverpool zu einer der besten Mannschaften überhaupt.
So teuer sie auch waren, Spieler wie Virgil van Dijk oder Mo Salah wurden erst unter Klopp zu Weltstars. Gleichzeitig zeigte Klopp dem zynisch gewordenen englischen Fußball, dass man aus den eigenen Jugendspielern Superstars machen kann. Unter ihm übertrafen Spieler wie Andy Robertson, Trent Alexander-Arnold oder Jordan Henderson jegliche Erwartungen.
Ein Spieler sagt, Klopp könne auch "schonungslos" sein
„Dieser Titel wäre ohne den Trainer nicht möglich gewesen“, sagt Mannschaftskapitän Henderson am Donnerstag. „Bei allem Respekt vor den anderen Trainern: Von dem ersten Tag, als er hier ankam, hat er alles geändert.“ Klopp sei ein Anführer und ein großartiger Mensch, ein Freund, könne aber auch „schonungslos“ sein. „Wir alle folgen ihm, wir alle glauben an ihn und er hat uns bis hierher geführt.“
Nicht nur die Spieler hat Klopp für sich gewonnen. Einmal, bei der jährlichen Gala-Dinner der Sportjournalisten, müssen sowohl Klopp als auch sein Kollege Pep Guardiola eine Rede halten. Klopp spricht als Erster, und als Guardiola danach ans Mikrofon kommt, schaut er sein Publikum ratlos an. „Was soll ich danach jetzt noch sagen?“
Vor allem aber sind es die Fans, die sich in Klopp verliebt haben. „We Believe“ lautet die einfache Botschaft auf einem der zahlreichen Klopp-Banner in der Liverpooler-Kurve. Er hat den Anhängern ihren Glaube zurückgegeben.
Er kritisiert die Fans. Und die Fans ändern sich
Schon früh in seiner Amtszeit erkennt Klopp den Unterschied zwischen deutschen und englischen Fans. Die Deutschen, sagt er, hören von der ersten bis zur 90. Minute nie auf zu singen – egal, was auf dem Platz passiert. In England hingegen sei die Stimmung viel mehr vom Spielgeschehen abhängig. Wenige Wochen nach seiner Ankunft ist Klopp nach einer Niederlage gegen Crystal Palace entsetzt, weil viele Fans schon vor dem Schlusspfiff das Stadion verlassen – und kritisiert sie dafür.
„Ich fühlte mich alleingelassen“, sagte er in dieser Woche rückblickend. „Ich musste an dem Abend ein Zeichen setzen, dass das sich ändern muss, dass auch die Fans sich ändern könnten.“
Seitdem verlässt kaum ein Liverpoolfan vor Abpfiff das Stadion, und Klopp hat mittlerweile den deutschen Brauch etabliert, dass die Profis sich nach jedem Spiel an die Fans wenden und ihnen applaudieren. Zudem hat er gezeigt, dass er die Anhänger nicht nur als gesichtslose Masse wahrnimmt, sondern als Menschen. Am vergangenen Sonntag kritisiert er nicht zum ersten Mal das Handeln der konservativen Regierung in der Pandemie. In der linken Stadt Liverpool kommt das gut an.
Scheitern, lächeln, das nächste Spiel gewinnen
Klopp hat gelernt, die Leidenschaft der Fans für sich zu nutzen. Das englische Publikum mag launischer sein als das deutsche, dafür kann es eine wahnsinnige Energie entfalten. Wie vor einem Jahr im Halbfinale der Champions League bei der dramatischen Aufholjagd gegen Barcelona.
Nach jenem Spiel schreibt Klopp für „The Player’s Tribune“ einen Artikel, in dem er über Rückschläge philosophiert. „Ich glaube, dass es im Fußball zu 98 Prozent darum geht, mit dem Scheitern umzugehen, und trotzdem zu lächeln und Freude im nächsten Spiel zu finden.“
Wenn es nach den Liverpool-Fans geht, wird Klopp in Anfield noch bei vielen Spielen an der Seitenlinie stehen. Am Tag nach dem Triumph wird der Trainer nach seinen Zukunftsplänen gefragt. „Ich kann nicht sagen, dass ich einen Vertrag auf Lebenszeit unterzeichne“, sagt Klopp. „Aber ich werde noch eine Weile hier sein.“ Und die Sache mit der Statue interessiere ihn erst einmal nicht. „Ich möchte noch 30, 40 Jahre leben“.