Die dröhnende Stille: Wie Hertha BSC sich auf die Geisterspiele einstellt
Auch für die Profis sind Geisterspiele eine ungewohnte Angelegenheit. Für Hertha ist es besonders bitter, denn bald steht das Derby gegen Union an.
Dedryck Boyata folgte seinem Reflex. Aber das muss in Zeiten des Coronavirus nicht unbedingt die beste Entscheidung sein. Der Innenverteidiger von Hertha BSC stand nach seiner Muskelverletzung am Mittwoch erstmals wieder auf dem Trainingsplatz, und als er das Gelände nach der individuellen Einheit mit Fitnesstrainer Hendrik Vieth verlassen wollte, hielt ihm ein Fan jenseits der Absperrung seine Hand entgegen. Boyata schlug ein, so wie er es eben gewohnt ist.
In Zeiten, in denen sich das Coronavirus weiter ausbreitet, aber werden alte Gewohnheiten weitgehend hinfällig, das wird den Fußballern von Hertha BSC vermutlich am Samstagnachmittag zum ersten Mal so richtig bewusst werden. Dann nämlich, wenn sie in Sinsheim auf dem Rasen stehen und beim Bundesligaspiel gegen die TSG Hoffenheim um sie herum die große Stille herrscht. Selbst bei Herthas Training am Mittwoch schauten mehr Menschen zu. Nicht einmal Journalisten dürfen am Samstag ins Stadion, abgesehen von den TV-Rechteinhabern und je einem Vertreter der Nachrichtenagenturen.
„Gesundheit geht vor“
„Das ist eine neue Erfahrung für uns alle“, sagt Herthas Manager Michael Preetz über den Zuschauerausschluss, der am Wochenende für die komplette Bundesliga gilt. „Es wird ein bisschen so wie bei Spielen in der Jugend. Und das ist lange her.“ Glücklich über die Geisterspiele ist im deutschen Fußball niemand, aber: „Es ist so“, sagt Preetz. „In der jetzigen Situation geht die Gesundheit vor.“
Die Frage ist: Wie lange wird diese Situation dauern? Herthas Manager hat den Eindruck, „dass das erst der Anfang ist“. Und vermutlich steht er damit nicht allein. Preetz ahnt da schon, was kurz darauf verkündet wird. In Berlin sind ab sofort alle Veranstaltungen mit mehr als tausend Menschen bis zum Ende der Osterferien Mitte April untersagt.
Das betrifft natürlich auch Herthas nächstes Heimspiel, das ein besonderes hätte werden sollen: das erste Erstligaderby gegen den 1. FC Union im Olympiastadion. Auch diese, seit Wochen ausverkaufte Partie kann also, wenn überhaupt, nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit gespielt werden. Das ist ein Schlag für Hertha, sportlich wie finanziell. Zum einen fällt im Derby der Heimvorteil weg, zum anderen dürfte der Einnahmeverlust für den Klub bei rund drei Millionen Euro allein für dieses Spiel liegen.
Alle sehnen sich nach Klarheit
Einfach Pech für Hertha? Oder doch ein Anlass, die Situation in der Bundesliga endlich grundsätzlich zu klären? Das soll am Montag geschehen, wenn die Vertreter der 36 Erst- und Zweitligisten zu einer außerordentlichen Mitgliederversammlung der Deutschen Fußball-Liga (DFL) zusammenkommen. Der Gesprächsbedarf der Vereine ist groß. Sie sehnen sich nach etwas mehr Klarheit in unklaren Zeiten.
So wächst zum Beispiel der Widerstand gegen die Abstellung von Vereinsspielern für die beiden Länderspiele Ende März; und möglich ist auch, dass die Vereine die DFL auffordern, sich beim europäischen Verband Uefa für eine Verschiebung der Europameisterschaft zu verwenden.
Wie ein Fels steht die EM im Terminkalender – unüberwindlich, aber eben nicht unverrückbar. Mit einer Verschiebung um ein Jahr zum Beispiel würde der Bundesliga und natürlich auch vielen anderen europäischen Ligen ein bisschen Luft verschafft. Bisher hat DFL-Chef Christian Seifert Spielabsagen als illusorisch bezeichnet, weil die Saison Ende Mai zu Ende gespielt sein muss.
Wie schwierig das ist, zeigt der Fall des ausgefallenen Spiels zwischen Werder Bremen und Eintracht Frankfurt, für das die Liga wegen Frankfurts Europacupbeteiligung bisher noch nicht einmal einen Nachholtermin festlegen konnte. Wie wäre es dann erst, wenn einer oder mehrere komplette Spieltage verlegt werden sollten?
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Vor der Mitgliederversammlung der DFL aber steht erst einmal ein kompletter Geisterspieltag der Bundesliga an. „Es ist ganz schwer, die Mannschaft darauf vorzubereiten“, sagt Herthas Trainer Alexander Nouri über die besonderen Bedingungen, die in Sinsheim herrschen werden. „Das lässt sich nicht in irgendeiner Form im Training simulieren.“
Trotzdem denken sie bei Hertha über besondere Maßnahmen für die besondere Situation nach. Zum Beispiel darüber, das Abschlusstraining der Mannschaft vor der Abreise in den Kraichgau im leeren Olympiastadion abzuhalten. Damit die Spieler zumindest ein Gefühl bekommen für die dröhnende Stille.