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Siegertyp. Alessandro Zanardi nach dem Gewinn der paralympischen Goldmedaille 2012 in London.
© Reuters

Berlin-Marathon: Alessandro Zanardi im Interview: „Wie ein Kind in einem Bonbonladen“

Treffen mit der Vergangenheit: Ex-Formel-1-Fahrer Alessandro Zanardi über seine Rückkehr nach Berlin, ungebrochenen Optimismus und seinen Start beim Marathon mit dem Handbike.

In Berlin trifft Alessandro Zanardi seine Vergangenheit. Nach einem lebensbedrohenden Unfall auf dem Lausitzring bei einem Champ-Car-Rennen im September 2001 wurden dem früheren Formel-1-Fahrer im Unfallkrankenhaus Berlin beide Beine amputiert. Seine Karriere als Rennfahrer setzte er anschließend fort, begann aber auch eine zweite mit dem Handbike. Bei den Paralympics 2012 in London gewann Zanardi im Einzelzeitfahren und im Straßenrennen jeweils die Goldmedaille. Heute startet der 48 Jahre alte Italiener nun zum ersten Mal beim Berlin-Marathon.

Herr Zanardi, wie ist es für Sie, wieder in Berlin zu sein?

Mir wurde hier in zweites Leben geschenkt. Ich habe auch viel deutsches Blut in meinen Adern (lacht). Als ich nach meinem Unfall hier herkam, war ich fast leer. Das musste ich erstmal wieder aufgefüllt werden. Aber jetzt hier zu sein, viele Leute wiederzutreffen und an so einem großartigen Rennen teilzunehmen, fühlt sich für mich an wie ein Kind im Bonbonladen.

Wie gelingt es Ihnen, die Dinge so zuversichtlich zu sehen?

Das Glas ist für mich immer halb voll, nie halb leer. Aber während ich trinke, versuche ich immer, noch etwas in mein Glas nachzufüllen. Ich bin nie zufrieden mit dem, was ich habe. Ich versuche immer weiterzukommen, etwas draufzusetzen. Jeder Tag ist eine Gelegenheit, etwas Neues zu machen, ein neuer Startpunkt.

Ihr Unfall ist 14 Jahre her. Hatten Sie schon früher vor, hier beim Marathon zu starten?

Nein, aus einem einfachen Grund: Das Handbike, mit dem ich sonst meinen Sport betreibe, ist hier nicht zugelassen.

Sie starten sonst in einem Handbike in einer knieenden Position, in Berlin liegen die Handbiker in ihrem Gefährt.

Ja. Ich kann in der aufrechten Position mehr Kraft übertragen, bin aber weniger aerodynamisch. In einem gemischten Rennen wäre ein Start für mich jedoch, als wenn ich einem Kind Bonbons aus der Hand stehlen würde. Dann könnte ich den anderen einfach folgen und sie auf den letzten 100 Metern im Sprint einfach überholen. Nicht weil ich ein besserer Athlet bin, sondern weil ich in einer besseren Position kurbele.

Jetzt sind Sie dennoch hier, wie kam das zustande?

In diesem Jahr hat mich einer der Organisatoren eingeladen und gesagt: Alex, du musst unbedingt kommen. Wir brauchen dich hier. Da bin ich neugierig geworden. Ich habe mir gesagt, ich könnte auch starten, wenn ich keine Chance habe, das Rennen zu gewinnen. Ich will einfach versuchen, keinen großen Rückstand zum Sieger zu haben. Das ist in etwa so, als würde ein Rallye-Fahrer an einem DTM-Rennen teilnehmen und in der gleichen Runde ins Ziel kommen wie der Sieger.

Wie kamen Sie an Ihr Handbike für die liegende Position?

Ich habe es von meinem Freund Vittorio Podesta geliehen, der auch Weltmeister ist. Es ist ein anderer Sport. Aber wer weiß, vielleicht kann ich mich ja selbst überraschen.

Wie viele Trainingseinheiten haben Sie in Ihrem geliehenen Gerät absolviert?

Ich habe drei Wochen damit trainiert. Das Entscheidende ist aber, dass ich insgesamt in einem guten Trainingszustand bin. Ich bin Weltmeister in meiner Startklasse. Aber das heißt nicht, dass ich gut trainiert bin für das neue Gerät, weil es andere Muskeln beansprucht und die Muskeln, die ich brauche, müssen anders arbeiten. Du musst mit weniger Kraft, aber mit mehr Geschwindigkeit kurbeln. Sonst kurbele ich 80 mal in der Minute, aber mit diesem Handbike wird es nicht unter 100 gehen. Vittorio kurbelt sogar wie ein Propeller mit 130 Drehungen pro Minute. Da würde ich Kopfschmerzen bekommen. Man nutzt in diesem Handbike auch viel kürzere Kurbeln, die man dreht, dreht, dreht und kaum etwas passiert. Wenn ich sonst einmal kurbele,kann ich schon die Beschleunigung spüren.

Ihr Konkurrent Vico Merklein, sagte vor dem Rennen: Sie werden auf jeden Fall an allen vorbeifahren.

Er denkt, ich schauspielere. Aber mache ich nicht (lacht).

"Sonst hätte ich den Unfall nicht überlebt"

Als Motorsportler mussten Sie die Grenzen der Maschine ausreizen, jetzt sind es die Grenzen ihres Körpers.

Absolut. Aber der Modus operandi ist immer derselbe: Du musst dir eine Liste von Prioritäten schreiben. Das klingt simpel, ist es aber nicht. Du musst Deine Probleme abarbeiten, alles, was dich langsamer macht, beseitigen.

Wie läuft das bei Ihnen ab?

Es gab einen Tag, an dem ich beschlossen habe, mit dem Motorsport zumindest vorübergehend aufzuhören, weil es mein Traum war, mich für die Paralympics in London zu qualifizieren. Da habe ich meine Prioritätenliste geschrieben. Auf der stand nicht nur trainieren und hart zu trainieren, sondern auch das Handbike an meine Knie anzupassen. Denn das ist wirklich spannend beim Handbike: Du musst dein Fahrzeug optimieren. Oder denken Sie an paralympische Leichtathleten: wie viele verschiedene Prothesen, wie viele unterschiedliche Materialien sie in ihrer Karriere austesten.

Das Tüfteln kannten sie schon aus dem Motorsport.

So ist es. Das kann man mögen, das kann man hassen. Aber so ist es nun mal, weil jedes Handicap unterschiedlich ist. Ich habe zum Beispiel ein längeres und ein kürzeres Bein. Ich habe daher ganz viel daran gearbeitet, was perfekt für mich ist. Trotz meines Alters habe ich manche Rennen gewonnen, weil ich in der Lage war, ein Fahrzeug zu entwickeln, das zu mir passt. Manche denken, ich gewinne nur weil ich das beste Bike habe. Aber du kannst das Beste haben – wenn es nicht das richtige ist, wirst du nicht gewinnen.

Sie achten heute viel mehr auf die Athletik als früher.

Klar, im Motorsport musst du fit sein, doch ab einem bestimmten Punkt geht es nur noch darum, wie gut das Auto ist.

Kurios ist eigentlich, dass der Unfall Ihren Körper beeinträchtigt hat, ihn aber auch jetzt im Sport wichtiger macht.

Ja, ich habe meinen Körper auch vorher gut behandelt. Sonst hätte ich den Unfall nicht überlebt. Auch nach dem Unfall habe ich meinem Körper geholfen, mir das zu geben, was ich wollte. Mit guter Ernährung und mit Training. Sie haben Recht, jetzt ist mein Körper meine Maschine.

Sie haben viel auf die Paralympics ausgerichtet, und wollen auch 2016 dort wieder erfolgreich sein. Was macht die Paralympics für Sie zu einem so besonderen Ereignis?

Gestern habe ich mit Anna Hahner gesprochen...

...die beste deutsche Starterin hier beim Marathon...

...sie will sich für die Olympischen Spiele in Rio qualifizieren und war sehr neugierig, zu erfahren, wie ich mich gefühlt habe, als ich bei den Spielen war.

Was haben Sie ihr gesagt?

Ich weiß, dass es ein großes Ereignis ist und ich habe nie das Gefühl dafür verloren, wie groß dieses Ereignis ist und was es mit mir machen kann. Aber am Ende ist es nur ein Rennen, nichts als ein Rennen. Das einzige, was dich in der Nacht vor dem Rennen gut schlafen lässt ist, zu wissen, alles getan zu haben, um bestmöglich vorbereitet zu sein. Und wenn du das liebst, was du tust, wird das schon klappen. Wissen Sie, die Vorbereitung für Rio ist für mich nur eine gute Ausrede, um jeden Tag das zu tun, was ich liebe.

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