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Harry Kane und Trainer Gareth Southgate sind die Gesichter der Three Lions.
© AFP PHOTO / FRANCK FIFE

Fußball-WM 2018 in Russland: Warum England den WM-Titel verdient

Lange hat es gedauert, doch jetzt hat England wieder eine Mannschaft, die richtig Spaß macht – und sogar Elfmeter kann. Ein persönlicher Brief.

Liebes England,

es heißt ja, dass sich deutsche und englische Fußballfans nicht besonders mögen. Und wahrscheinlich stimmt das auch. Zu oft sind wir in entscheidenden Spielen aufeinandergetroffen, und das tut für einen der beiden ja immer weh. Das Halbfinale 1990. Euer Wembley-Tor 1966 (Der Ball war niemals drin!). Als wir euch 1996 aus der EM warfen, die auch noch bei euch im Land stattfand. Aber diesen Brief zu schreiben, ist mir dennoch ein Bedürfnis. Denn ich möchte euch sagen: Holt den Cup nach Hause, ihr habt es verdammt noch mal verdient.

Ihr seid knapp 500 Kilometer entfernt. 300 Meilen, Entschuldigung. Aber in dieser vernetzten Welt ist ja nichts mehr wirklich weit entfernt, und auch 300 Meilen weit entfernt merkt man die große emotionale Wucht, die ihr auf der Insel gerade entfaltet. Die Art und Weise, wie ihr das Internet mit „It’s coming home“-Memes flutet oder mit witzigen Ideen unter #GarethSouthgateWould. Die Videos, wie ihr beim Public Viewing in London, in Preston, Leicester, wo auch immer, vor einer Leinwand steht, diesen letzten verdammten Elfmeter abwartet und euch dann jubelnd in den Armen liegt. Ich weiß, das Bier ist teuer bei euch. Aber die Bierduschen scheinen jeden blöden Penny wert.

Ihr zeigt: Fußball kann das wichtigste und unwichtigste der Welt

Als Deutscher bin ich vielleicht nicht der Richtige, um das zu beurteilen, Humor ist bei uns schließlich unter Strafe verboten. Aber mit eurem typisch britischen Witz zeigt ihr auf entspannte Art, dass Fußball das Wichtigste und gleichzeitig das Unwichtigste auf der Welt sein kann. Und es ist nicht mal so, dass ich euch als Fans plötzlich sympathisch finde, wie ihr nachts auf irgendwelchen Straßen steht, auf Autodächern tanzt und euphorisch „Football’s coming Home“ singt. Nein, auch eure Mannschaft ist plötzlich super.

Bitte nicht falsch verstehen, ihr hattet schon immer großartige Fußballer. Als Michael Owen 1998 durch halb Frankreich sprintete und den Ball am argentinischen Keeper vorbei in den Winkel schoss, saß ich als Teenager staunend vorm Fernseher. Oder Paul Gascoigne. Mein Gott, Gazza 1996, der Heber über den schottischen Gegenspieler und der Dentist-Chair-Jubel im Anschluss. Was für ein Spieler. Oder Steven Gerrard, dieser große Unvollendete, dem Loyalität stets wichtiger war als ein gut gefüllter Trophäenschrank. Oder Lampard (Sorry nochmal für 2010). Rooney, dessen Debüttor für Everton ich live im TV sah (REMEMBER THE NAME!).

Aber man hatte oft, zu oft, das Gefühl, dass da zwar großartige Spieler auf dem Platz stehen, nicht aber eine großartige Mannschaft. Das ist 2018 anders. Dele Alli, Harry Kane, Jesse Lingard: Vielleicht war eure „Goldene Generation“ um Rooney, Gerrard und Co. individuell sogar besser. Aber die Three Lions 2018 machen viel mehr Spaß, auch weil sie viel nahbarer sind. Eine Gruppe von Jungs, die man so auch im Pub um die Ecke treffen könnte, die bei euch immer so schöne Namen haben, um mit ihnen das Spiel zu gucken und bei ein, zwei Pint ein paar Witze über die doofen Deutschen zu machen.

Und das Schöne dabei: Ihr wirkt nie verbissen

Und was habt ihr für einen großartigen Trainer? Gareth Southgate, den ihr jetzt schon in den Himmel hebt, und das völlig zu Recht, allein weil er anders ist als all die staubigen Roy Hodgsons oder fehl am Platz wirkenden Fabio Capellos. Southgate wirkt hingegen wie einer, der Ahnung hat. Er lässt Elfmeter trainieren, weil er verdammt noch mal am besten weiß, wie schwierig sie sind. Und im Anschluss geht er zu den Verlierern und tröstet sie. Kein Wunder, dass ihr alle plötzlich seine Weste kaufen wollt.

Es heißt immer, England sei das Mutterland des Fußballs, und wahrscheinlich stimmt auch das. Ganz am Anfang, als ihr die Besten wart, seid ihr gar nicht erst zu den Weltmeisterschaften gefahren. Später, als alle anderen längst aufgeschlossen hatten, habt ihr gemerkt, wie schwer es ist, so eine verdammte WM nach Hause zu holen. Vielleicht wollt ihr es deshalb am meisten. Das Schöne ist: Ihr wirkt dabei nie verbissen (das kann ich als Deutscher tatsächlich gut beurteilen), sondern positiv und ja, sympathisch. Weshalb ich euch den Titel wünsche. Auf dass der Football wirklich home kommt, die Bierduschen niemals enden und ihr den ersten Titel nach mehr als einem halben Jahrhundert feiern könnt, diesmal sogar ohne irreguläres Tor im Finale. Und anschließend können wir uns ja wieder mit der guten, alten Häme begegnen. Spätestens in einem Elfmeterschießen.

Stephan Reich

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