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Pech und Unvermögen. Bei der DFB-Elf kam beides zusammen.
© dpa

Statistik über "Expected Goals": Warum die Deutschen gar nicht so schlecht waren

Der Fußball wird längst von unzähligen Statistiken begleitet. Viele davon sind unbrauchbar für eine Analyse. Zum Glück gibt es eine Ausnahme.

In den letzten vier Wochen ist wieder ausgiebig von Fußballfans und Experten darüber debattiert worden, welche Mannschaften bei der WM in Russland gut gespielt haben und welche enttäuschten. Und gerne wurde dabei auch mal auf die allgegenwärtigen Statistiken zurückgegriffen, wer wieviel gelaufen war, gepasst und geschossen hatte. Doch wozu ist das wirklich gut? Zu Recht rollen inzwischen viele Fans entnervt die Augen, wenn mit Ballbesitzwerten argumentiert wird. Schließlich ist es nur eine quantitative Angabe, ob eine Mannschaft 70 Prozent Ballbesitz hat, aber es ist keine qualitative.

Manche Mannschaft, und bei dieser WM waren es etliche, bevorzugen eben Konter und haben den Ball daher logischerweise weniger als ihre Gegner. Seit einigen Jahren gibt es jedoch einen hochinteressanten Wert mit deutlich größerer Aussagekraft. Expected Goals, was wörtlich übersetzt „zu erwartende Tore“ heißt, ist ein Qualitätsmesser für Torchancen. Anstatt nur zu zählen, wie viele Schüsse aufs gegnerische Tor abgegeben werden, schaut man darauf, von wo und unter welchen Umständen das passierte. Denn natürlich macht es einen Unterschied, ob man aus fünf Metern köpft oder aus 30 Metern schießt.

Chancen sind aussagekräftiger als Schüsse

Da über die Jahre hunderttausende Abschlusssituationen erfasst worden sind, ist es möglich geworden, bei jedem Torschuss die Wahrscheinlichkeit zu beziffern, mit der er ins Tor geht. Am einfachsten kann man sich das bei einem Elfmeter klar machen: Im Schnitt werden 75 von 100 Elfmetern verwandelt, er ist also eine 75-prozentige Torchance oder 0,75 Expected Goals. Wie gut die Chancen sind, die man herausspielt und wie gut auf der anderen Seite jene sind, die man dem Gegner gewährt, ist weit aussagekräftiger als Schüsse zu zählen.

Wie stark etwa Frankreich im Halbfinale Belgien kontrollierte, zeigen die nur 0,38 Expected Goals, die sie einem Gegner erlaubten, obwohl der in Kevin de Bruyne, Eden Hazard und Romelu Lukaku über eine der beeindruckendsten Angriffsreihen des Turniers verfügte. Belgien gab zwar neun Torschüsse ab, diese jedoch aus wenig aussichtsreichen Situationen mit einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit ins Tor zu gehen. Mithilfe der Expected Goals kann man sich aber auch über die wichtige Rolle des Zufalls im Fußball klar werden.

Ausnahme. Frankreich kontrollierte Belgiens Offensivreihe - fast immer.
Ausnahme. Frankreich kontrollierte Belgiens Offensivreihe - fast immer.
© dpa

Das zeigte sich bei dieser Weltmeisterschaft etwa im Viertelfinale zwischen Brasilien und Belgien. Gemeint ist hier nicht, dass die Brasilianer bei ihrer 1:2-Niederlage einen klaren Elfmeter nicht zugesprochen bekamen, denn diese Form des Zufalls ist nicht quantifizierbar. Aber die Verteilung der Expected Goals sprach mit 2,45 : 0,5 so klar für die Brasilianer, dass sie eigentlich hätten gewinnen müssen. Der holländische Fußballanalyst Sander Ijtsma, der auf Basis dieser Verteilung den Ausgang der Spiele simuliert, errechnete eine 84-prozentige Siegwahrscheinlichkeit der Brasilianer.

Deutschland war in allen Spielen überlegen

Aber: Fußball ist ein Spiel, und in diesem ist mehr Platz für den Zufall als wir oft wahrhaben wollen. Womit wir bei der deutschen Mannschaft wären. Über sie schrieb Ijtsma bei Twitter: „Es wird vermutlich etwas Überzeugungsarbeit kosten, aber Deutschland bei dieser Weltmeisterschaft war ein Fall von ‚shit happens’“. In allen drei Gruppenspielen war Deutschland dem Gegner überlegen, wenn man die Qualität der herausgespielten Torchancen heranzieht. Im ersten Spiel gegen Mexiko lag sie mit 1,23 : 1,19 Expected Goals knapp vorne, das passende Ergebnis wäre also eher ein Unentschieden gewesen.

Auch gegen Schweden lag Deutschland mit 1,39: 1,23 nur so knapp vorne, dass der Sieg auch von der Chancenqualität etwas glücklich war und nicht nur, weil Toni Kroos erst in der 95. Minute das Siegtor schoss. Dramatisch allerdings waren die Werte beim unseligen dritten Spiel gegen Südkorea, das Deutschland mit 0:2 verlor. Hier errechnete Ijtsma ein Verhältnis von 2,55 : 1,76 Expected Goals. Allerdings lag der Wert der Koreaner in der 90. Minute vor ihren beiden Tore in der Nachspielzeit noch bei 0,3.

Weil Deutschland unbedingt treffen musste, öffnete die Mannschaft ihre Abwehr bekanntlich so weit, dass die Südkoreaner zwei große Torchancen herausspielen konnten und sie auch nutzten. Wären die deutschen Spiele den Wahrscheinlichkeiten gefolgt, wären die DFB-Elf mit Sicherheit eine Runde weiter gekommen. Damit sollen Löw und seine Spieler beileibe nicht hintenherum als Pechvögel rehabilitiert werden, dazu waren die Leistungen zu schlecht.

Spanien: Vom Fußballgott gestraft

Leider gibt es keine entsprechenden Daten etwa für die Fußball-Weltmeisterschaft 2002, als Deutschland es bis ins Finale schaffte. Aber wenn es sie gäbe, würden sie bestimmt von der großzügigen Gunst des Schicksals erzählen. Neben den Deutschen und den Brasilianern dürfen sich auch die Spanier vom Fußballgott gestraft fühlen. Ihr Achtelfinale gegen Gastgeber Russland wies 2,12 : 1,01 Expected Goals aus. Wenn man noch in Betracht zieht, dass der russische Wert ohne einen glücklich zustande gekommenen Handelfmeter bei unter 0,3 gelegen hätte, hatte der Weltmeister von 2010 das Schicksal sicherlich nicht auf seiner Seite. Nun bilden die Expected Goals nicht die Wahrheit des Spiels ab.

Die Verteilung von Chancen hat auch mit dem Verlauf einer Partie zu tun. Belgien etwa griff gegen Brasilien auch deshalb kaum noch an, weil sie ihre Torgelegenheiten schon genutzt hatten und vor allem den Vorsprung verteidigen wollten. Dennoch sind die Expected Goals im Moment mit Abstand der beste Wert, um die Lücke zwischen Leistung und Ertrag zu erkennen, die es mitunter gibt. Wenn allerdings am Sonntag im Luschniki-Stadion Frankreich und Kroatien aufeinandertreffen, sind das die „richtigen“ Finalgegner. Kroatien hatte gegen England mit 1:56 : 0,56 Expected Goals die klar besseren Chancen und erreichte das Finale verdient.

Das galt auch für die Achtel- und Viertelfinalspiele, in denen die Kroaten gegen Dänemark und Russland sogar ins Elfmeterschießen mussten. Auch Frankreich hat nicht der Zufall ins Finale gespült, sondern bessere Leistungen als seine jeweiligen Gegner. Aber vielleicht wird nach Abpfiff trotzdem eine von beiden Mannschaften ihr Glück nicht fassen können – und die andere ihr Pech.

Alle Infos rund um die WM gibt's in unserem Liveblog.

Christoph Biermann

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