Viertelfinale der EM: Warum Deutschland vor Italien zittert
Italien ist der große deutsche Angstgegner. Kein Wunder: Noch nie hat die Nationalmannschaft ein Pflichtspiel gegen die Italiener gewonnen.
Jerome Boateng weiß im Moment vermutlich gar nicht, wo er all die freundlichen Worte noch hinstecken soll, die auf ihn einprasseln. In seinem Hotelzimmer in Évian-les-Bains dürften sämtliche Kommoden und Schränke schon überquillen vor Lob. Aber als guter Verteidiger weiß er natürlich auch: Egal wie gut er in seinem Job auch sein mag, hinter den sieben Bergen gibt es ein Land, in dem noch viel besser verteidigt wird. Hinter den sieben Bergen liegt Italien, wo die Kinder das richtige taktische Verhalten, das Umschalten von Dreier- auf Viererkette zum Beispiel, schon auf der Säuglingsstation lernen. „Die Italiener sind einfach taktisch super geschult“, sagt Jerome Boateng, der Innenverteidiger der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. „Auf den Zentimeter genau stimmen da die Abstände. Sie arbeiten als Team zusammen und setzen kleine Nadelstiche.“
Seitdem bei der Europameisterschaft in Frankreich die 16 Überlebenden der Vorrunde auf die Äste des Turnierbaums geklettert sind, war klar, dass es die Deutschen im Viertelfinale in jedem Fall mit einem ihrer Angstgegner zu tun bekommen würden. Entweder mit Spanien oder mit Italien – mit den beiden einzigen Mannschaften also, gegen die das deutsche Team K.-o.-Spiele verloren hat, seitdem Joachim Löw im Sommer 2004 für den Deutschen Fußball-Bund (DFB) zu arbeiten begonnen hat. Nun ist es also Italien geworden.
Generationsübergreifende Dominanz
Die Italiener sind vielleicht noch ein bisschen mehr Angstgegner als die Spanier, was daran liegt, dass ihre Dominanz gegen die Deutschen eine generationenübergreifende Sache ist. Die Italiener scheitern bei großen Turnieren ja gerne mal als Titelverteidiger schon in der Vorrunde und werden bei der Rückkehr in die Heimat mit Tomaten beworfen – gegen die Deutschen aber passiert ihnen so etwas ganz sicher nicht. Noch nie hat die Nationalmannschaft ein Pflichtspiel gegen die Squadra Azzurra gewonnen, und auch die Gesamtbilanz des viermaligen Weltmeisters Deutschland gegen den viermaligen Weltmeister Italien fällt ziemlich ernüchternd aus. Von 32 Spielen hat das DFB-Team gerade sieben gewonnen; dem stehen fünfzehn Niederlagen gegenüber.
Ein paar Fehler zu viel
Immerhin liegt der letzte Erfolg der Nationalmannschaft gerade mal drei Monate zurück. Ende März feierte sie in München einen überraschend hohen 4:1-Erfolg und erzielte in diesem einen Spiel so viele Tore wie in den sieben vorangegangenen Duellen zusammen. Es war auch der erste deutsche Sieg seit mehr als 20 Jahren und der emotionale Abend des Mario Götze, der anders als bei den Bayern von Anfang an ran durfte und mit einem Kopfball das zwischenzeitliche 2:0 erzielte. Schon das aber zeigt, dass diese Begegnung für das EM-Viertelfinale am Samstag in Bordeaux wenig Aussagekraft besitzt. Die Italiener traten in München nicht mit ihrer besten Elf an – und Götze wird am Samstag wohl kaum in der deutschen Startelf stehen.
Trotz ihres frischen Selbstbewusstseins bleibt bei den Deutschen vor dem Duell mit den Italienern ein Rest von Zweifeln, der sich vor allem aus ihren schlechten Erfahrungen speist. Bei der EM vor vier Jahren galt die Nationalmannschaft nach dem überzeugenden 4:2 im Viertelfinale gegen Griechenland ebenfalls als eindeutig favorisiert. „Wir waren schon auf dem Olymp“, hat Thomas Müller dieser Tage noch einmal gesagt. Doch dann machten die Deutschen in Warschau das, was man gegen die Italiener nie machen sollte: ein paar Fehler zu viel. Mario Balotelli erzielte beide Tore zum 2:1-Sieg, das erste nach einer Fehlerkette, die ihren Anfang bei Bundestrainer Löw begonnen hatte, der Toni Kroos auf Andrea Pirlo angesetzt hatte.
Eine ganze Nation in Feierstimmung
Das 1:2 von Warschau war noch ein bisschen schmerzhafter als die Halbfinalniederlage bei der WM im eigenen Land vor fast auf den Tag genau zehn Jahren; bitter waren damals vor allem die Umstände. Als sich alle schon auf das Elfmeterschießen freuten, traf Fabio Grosso eine ganze Nation in Feierstimmung mit seinem Tor mitten ins Herz. Alessandro Del Piero erhöhte schließlich noch auf 2:0. Trotzdem verließen die Verlierer mit erhobenem Haupt den Platz, weil sie einem eigentlich besseren Gegner Paroli geboten hatten. 2012 hingegen verschwanden die Deutschen gewissermaßen durch die Hintertür, weil sie die Niederlage eigener Dummheit zu verdanken hatten.
Sieben Spieler, die schon in Warschau in der Startelf standen, werden vermutlich auch in Bordeaux von Anfang an spielen. Unterschätzen werden sie die Italiener nach allem, was sie erlitten haben, ganz sicher nicht.
Stefan Hermanns