Urteil über Rehms Nichtnominierung: Vorteil durch Prothese
Der DLV nominiert Prothesen-Weitspringer Markus Rehm nicht für die EM und argumentiert der Paralympics-Sieger habe einen Vorteil im Wettbewerb. Wegen seiner Prothese.
Es erinnerte schwer an einen Physik- Grundkurs, als Idriss Gonschinska die Nichtberücksichtigung von Markus Rehm für die Europameisterschaften in Zürich begründete. Die Quintessenz der Ausführungen des Cheftrainers beim Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV), warum der auf eine Beinprothese angewiesene Weitspringer nicht ins EM-Aufgebot rückte: Die Leistungen von Athleten mit zwei Beinen und eines Prothesenspringer sind nicht vergleichbar. „Wir leben die Inklusion täglich. Die Grenze der Inklusion ist die Vergleichbarkeit der Leistung, die Chancengleichheit im Wettkampf“, betonte DLV-Präsident Clemens Prokop auf der Nominierungspressekonferenz am Dienstag in Frankfurt am Main. Vergleichbarkeit sei die Grundidee jeden Wettkampfs.
Stundenlang hatte der Bundesausschuss Leistungssport die Messergebnisse diskutiert, die ihm von den Biomechanikern des Olympiastützpunkts Hessen am Montag übergeben worden waren. Im Vergleich der Sprünge von Markus Rehm, der am Samstag in Ulm 8,24 Meter erreicht hatte, und von Ex-Europameister Christian Reif, dessen bester Versuch mit 8,20 Metern gemessen worden war, hätten sich große mechanische Unterschiede ergeben. Gonschinska berichtete: „Es waren wesentliche Merkmalsdifferenzen zu erkennen, wie die Leistung realisiert wird. Es sind unterschiedliche mechanische Bedingungen. Das Massefederdämpfungssystem ist schwer vergleichbar mit dem Muskelsehnensystem.“
Den gravierendsten Unterschied und ein Plus für Prothesenträger ermittelten die Trainingswissenschaftler auf der kurzen Phase auf dem Balken: „Wir haben eine unglaubliche Absprungeffizienz beobachtet.“ Während ein Sprunggelenk beim Absprung „kollabiere“, sich dadurch die Anlaufgeschwindigkeit deutlich verringere, verliere die Karbonstelze fast keine Energie. Der Tübinger Biomechanik-Professor Veit Wank sprach davon, dass die Feder „überdurchschnittliche Stützmomente“ ermögliche. Nach Meinung des Sportwissenschaftlers seien die Ergebnisse so eindeutig, dass keine zusätzlichen Studien angestrengt werden müssten. „Es ist nicht notwendig, einen Riesenaufwand zu machen“, sagte Wank. Rehm habe selbst gesagt, dass er mit einer Prothese früherer Bauart nicht so weit hätte springen können. „Das kann man so nicht weiterlaufen lassen“, sagte Wank. „Das Ende der Fahnenstange ist noch nicht erreicht.“ Theoretisch seien dann je nach technischer Entwicklung künftig auch Sprünge über 8,50 Meter möglich, so Wank.
Für den Weitsprung hat der DLV nun Christian Reif aus Rehlingen nominiert, der als einziger Athlet alle Kriterien vollinhaltlich erfüllte, zudem den Titelverteidiger Sebastian Bayer aus Hamburg und den Karlsruher Julian Howard. Rehm habe zwar die EM-Norm erreicht und in Ulm den Titel gewonnen, habe aber nach Abwägung aller Faktoren nicht berücksichtigt werden können für das EM-Trio, sagte Gonschinska: „Wir haben verantwortungsvoll entschieden. Wir haben in dieser Situation wirklich sehr sorgfältig abgewogen und viel abzuwägen gehabt.“
Rehm, der derzeit in Kienbaum trainiert und sich nun statt auf die Leichtathletik-EM vom 12. bis 17. August auf die danach stattfindende Behindertensport-EM in Wales vorbereitet, muss jetzt mit einem weiteren Tiefschlag rechnen. Es spricht alles dafür, dass ihm aufgrund der biomechanischen Erkenntnisse auch der Titel des Deutschen Meisters wieder aberkannt wird.
Christian Reif, der in der Wertung von Ulm voraussichtlich auf Rang eins vorrückt, twitterte: „An der Weitsprunggrube konnte Dich niemand schlagen – und trotzdem wirst Du nicht für die EM nominiert: Weil eilig – aber viel zu spät – ausgewertete Analysen zu dem Ergebnis kommen, dass Du einen Vorteil haben sollst. Vorteil hin oder her. Für mich bist Du dennoch ein Gewinner. Denn Du hast allen gezeigt, wozu Sportler mit Behinderung fähig sind!“
Clemens Prokop, der ausdrücklich die großartige sportliche Leistung des Paralympics-Siegers im Donaustadion lobte, forderte den Weltverband (IAAF) zum Handeln auf. „Es geht um eine generelle Lösung, die für alle klar bestimmt, wie die Teilnahme von Behinderten bei Wettkämpfen von Nichtbehinderten zu regeln ist, wenn sie technische Hilfsmittel benutzen. Da müssen wir weltweit zu einer einheitlichen Regelung kommen.“ Die Frage sei zu klären, ob Inklusion auch bedeutet, gemeinsam gewertet werden zu müssen.
Nach Zürich fährt der DLV mit dem größten Aufgebot seit der EM 1998 und dem jüngsten seit 1990. Angeführt wird die 93-köpfige Mannschaft von Kapitän Robert Harting, der sich vor der Rehm-Entscheidung öffentlich gegen dessen Nominierung stark gemacht hatte.
Reinhard Sogl