Berlin-Marathon: Von der Freizeitläuferin zur Grenzgängerin
Anke Esser kam beim Berlin-Marathon als beste Deutsche ins Ziel. Die 28-Jährige hat einen großen Schritt gewagt: Für ihren Traum ist sie weit weg gezogen.
An die zweite Rennhälfte des Berlin-Marathons kann sich Anke Esser nicht mehr erinnern. An gar nichts. Von diesen eineinhalb Stunden am Sonntag hat sie keine Bilder mehr im Kopf. „Ich bin in ein schwarzes Loch gelaufen“, sagt sie. Vielleicht ist es auch gut, dass Esser sich daran nicht mehr erinnert. Denn die zweite Rennhälfte verlief ganz anders, als sie es sich vorgenommen hatte. Die 28-Jährige aus Ostbevern im Münsterland wollte ihre persönliche Bestzeit von 2:43:14 Stunden deutlich unterbieten, auf 2:35 Stunden – mindestens. So wie sie auch schon im Vorjahr ihre Bestzeit in Berlin um fast elf Minuten verbessert hatte.
Doch das klappte gar nicht. Nach dem Einbruch ab Kilometer 21 schleppte sie sich in Richtung Ziel – am Ende als 39. in 2:48:52 Stunden. Siegerin Gladys Cherono aus Kenia lief in 2:18:11 Stunden ein.
Beste deutsche Läuferin war Esser trotzdem, nur wirklich freuen konnte sie sich auch darüber nicht. Sie war so geschwächt, dass sie nach dem Rennen für einige Stunden ins Krankenhaus musste. Noch am Sonntagabend fuhr sie allerdings wieder zurück ins Münsterland. „Es war nur ein kleiner Zusammenbruch“, sagt Esser. „Im Marathon testet man eben seine Belastungsgrenzen aus. Und ich habe darin noch wenig Erfahrung.“
Wenig Erfahrung ist fast schon übertrieben. Vor einem Jahr war Esser noch eine ambitionierte Hobbyläuferin. Der Berlin-Marathon am Sonntag war der erste, auf den sie sich unter professioneller Anleitung vorbereitet hat. Und das unter sehr ungewöhnlichen Umständen.
Iten ist die Hochburg der Langstreckenläufer
Seit Anfang dieses Jahres lebt Esser in Kenia. In Iten, der Hochburg der Langstreckenläufer. Das 4000-Einwohner-Örtchen liegt im Nordwesten Kenias auf 2400 Meter Höhe in der Rift-Valley-Region. Esser hat sich entschieden, ihr Leben komplett auf das Laufen auszurichten. Sie hat ihren Job als Athletenmanagerin beim CHIO-Reitturnier in Aachen gekündigt, hat sich eine kleine, einfache Zwei-Zimmer-Wohnung in Iten gemietet und hat sich einer kenianischen Laufgruppe angeschlossen, mit der sie nun dreimal täglich sieben Tage pro Woche trainiert.
Begonnen hat für Esser alles im vergangenen Jahr bei ihrem ersten Kenia-Aufenthalt. Sechs Monate arbeitete die studierte Betriebswirtin bei einem Hilfsprojekt in Iten, einer Stiftung, die benachteiligte Familien und Kinder unterstützt. Während dieser Zeit nahm sie auch für zwei Wochen an einem Trainingscamp für Freizeitläufer teil. Einer der Trainer, der Kenianer Ian Kiprono, sprach Esser daraufhin an, ob sie sich nicht vorstellen könne, dem Laufsport professionell nachzugehen. Sie konnte. „Meine Lauf-Leidenschaft ist in Kenia richtig aufgebrochen“, sagt Esser. Vor allem bestärkte es sie, dass ein erfahrener Trainer wie Kiprono an sie glaubte. „Er hat etwas in mir gesehen, was ich selber nicht sah.“
So ging Esser, die auch noch nie einem Leichtathletik-Verein angehörte, das Wagnis Kenia ein. Ein Wagnis, das für sie gar keines ist. „Ich habe immer die Ferne gesucht. Und ich habe mich noch nie so glücklich gefühlt wie in Kenia“, betont Esser. „Ich habe nicht einmal daran gedacht, alles hinzuwerfen.“ Natürlich fühlt sie sich auch mal einsam. „Ich müsste lügen, wenn das nicht so wäre, aber ich meistere das gut und bin auch gerne mal allein.“
Höchstes Tempo
Sportlich war vor allem die Anfangszeit schwierig. In der Trainingsgruppe, die bis zu 40 Läuferinnen und Läufer umfasst, testeten die afrikanischen Athleten die einzige Europäerin Esser. Sie trainierten in höchstem Tempo, meist musste Esser abreißen lassen. „Die großen Umfänge von 30 Kilometer pro Tag waren sehr hart“, sagt sie. „Ich wurde auf die Probe gestellt, habe aber nicht aufgegeben.“ Auch ein Ermüdungsbruch im Fuß stoppte sie nicht. Mit der Zeit verdiente sich Esser den Respekt ihrer Laufkollegen – und machte enorme Leistungssprünge: „Jetzt brauche ich diese großen Umfänge.“
Drei Jahre hat sich Esser für ihr Laufabenteuer gegeben, solange lebt sie vom Ersparten. Sponsoren hat sie nicht. „Das ist ein total mutiger Schritt. Aber sie hat wirklich Potenzial“, sagt Mark Milde, Renndirektor des Berlin-Marathons. Und so enttäuscht Esser nach dem Sonntag noch ist, betont sie: „Ich werde daraus gestärkt hervorgehen.“ Es ist der nächste Schritt eines Prozesses, bei dem sie schon so viel gelernt hat. Schließlich ist für sie klar: „Ich lebe meinen Traum.“