Ein weiterer Shutdown wäre eine Katastrophe: Vieles kannst du mit Geld retten – die Jugend nicht
Lasst die Kinder und Jugendlichen Sport treiben und in die Schulen und Kitas gehen. Ein Appell an die Politik vom Geschäftsführer der Füchse Berlin.
Wenn ich sagen würde, dass ich verärgert bin, stimmt das nicht. Es ist untertrieben. Leider. Denn ich bin sauer. Richtig sauer. Sauer über die momentane Situation in unserem Land. Sauer auf weite Teile der Politik. Sauer aber vor allem, wie in dieser Zeit mit den Kindern und Jugendlichen umgegangen wird.
Aber der Reihe nach und eines vorweg: Ich bin doppelt geimpft. Ich bin geboostert aus vollster Überzeugung. Und ich bin vor allem kein Pauschalkritiker der Politik. Der Politik ist es zu verdanken, dass der Profisport in seiner jetzigen Form überhaupt überlebt hat.
Wir, die Klubs in der Handball-Bundesliga – und nicht nur dort, wurden durch üppige Staatshilfen unterstützt. Das Land Berlin hat die Füchse Berlin, meinem Verein, massiv unter die Arme gegriffen. Dafür bin ich sehr dankbar. Dennoch muss ich in den folgenden Zeilen kritisch sein. Die letzten Monate haben mich frustriert. Nicht, dass ich der Auffassung bin, dass uns die Politik jederzeit vorschreiben muss, was wir zu tun oder zu lassen haben.
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Doch wie sich unsere Regierenden während des Wahlkampfs im Kampf gegen das Virus für Monate aus der Verantwortung genommen haben, bestürzt mich. Es ging nicht in erster Linie darum, eine Katastrophe, vor der wir jetzt womöglich in den überfüllten Krankenhäusern stehen, mit allen Mitteln abzuwenden. Es ging nicht um Pandemie-Prävention, um Weitsicht, um das Vorbereiten auf den nächsten Corona-Winter, vor dem die Experten immer wieder gewarnt hatten.
Ob beim Sport, in der Schule oder in den Kitas, das größte Vergehen ist der Umgang mit den Heranwachsenden
Es ging vielmehr um eigene Interessen, es ging schlicht darum, gewählt zu werden. Das politische System drehte sich viele Monate lang vornehmlich um sich selbst. Man musste zwangsläufig das Gefühl bekommen, Corona sei vorbei. Große Teile der Menschen haben der Politik vertraut, um danach festzustellen, dass alles am Ende doch nur dem Wahlkampf untergeordnet war.
Vor allem beim Thema Corona wurde versprochen, gemauschelt und gelogen. In den letzten Tagen, Wochen und Monaten wurden etliche Fehler gemacht. Doch das größte Vergehen war und ist der Umgang mit unseren Kindern und Jugendlichen. Ob beim Sport, bei der Musik, in der Schule oder in den Kitas: Diese Gruppe so lange von der gesellschaftlichen Teilhabe auszuschließen, ist mit nichts zu entschuldigen.
Einen Lockdown für Kinder und Jugendliche, wie wir ihn über Monate erlebt haben und wie er im westlichen Europa beispiellos war, darf es nie wieder geben, wir müssen ihn unter allen Umständen vermeiden. Die jungen Menschen dürfen auf keinen Fall ausbaden, was wir aufgrund viel zu niedriger Impfquoten und mangelnder Disziplin nicht auf die Reihe bekommen.
Ein weiterer Shutdown für unsere Kinder und Jugendlichen ist im Kampf gegen das Virus nicht die letzte Option, es ist schlicht KEINE Option. Lasst die Kinder und Jugendlichen sich bewegen, Sport treiben und in die Schulen und Kitas gehen. Wenn noch einmal das passiert, was wir im letzten Jahr erlebt haben, wird es bei den Kleinen massive Defizite geben. Motorische Defizite, aber auch kognitive und soziale. Ich bin ein großer Fan von Kontaktbeschränkungen zur Bekämpfung der Pandemie, wo immer sie sinnvoll sind.
Höchste Zeit, unsere Stimme für diese Gruppe zu erheben
Doch allein die neuerliche Diskussion über diese Maßnahme bei Heranwachsenden halte ich nach allen Erfahrungen, die ich in den letzten 20 Monaten gemacht habe, für vollkommen unangebracht. Unabhängig von Inzidenzen und Hospitalisierungsraten fordere ich genau jetzt klare Bekenntnisse der Politik. Dieser „Akt der Solidarität“ ist das Mindeste, was den Kindern und Jugendlichen jetzt zusteht. Es ist höchste Zeit, unsere Stimme für diese Gruppe zu erheben. Kinder und Jugendliche haben bei Wahlen keine Stimme.
Das ist ein großes Problem. Wenn wir sie jetzt nicht vertreten, wer dann? Jeden Tag stehe ich als Jugendtrainer in der Halle, um aus den Kids bessere Handballer und auch bessere Menschen zu machen. Und deswegen möchte ich gerade in dieser Zeit für den Nachwuchs mit all seinen Ängsten und Sorgen einstehen. Ich erlebe täglich, wie Eltern mit der Corona-Situation vielfach überfordert sind.
Ich bekomme mit, wie sich die Kinder- und Jugendpsychatrien vielerorts füllen. Ich sehe die verheerenden Folgen für die Motorik der Kinder und für ihre Psyche, die jeder Tag in Isolation mit sich bringt. Die Situation an der Basis ist dramatisch, das kann ich Ihnen versichern. Der Vereinssport ächzt, wir verlieren gerade Tausende von Mitgliedern. Jugendmannschaften werden reihenweise abgemeldet.
Dem Handball, und nicht bloß dem, wird die Basis entzogen. Viele unserer Jugendmannschaften haben seit Beginn der Pandemie im März 2020 bis zum heutigen Tag gerade einmal drei Spiele absolviert, von Trainingsmöglichkeiten ganz zu Schweigen.
Nicht weniger als die körperliche und seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen auf dem Spiel
Was dieser Bewegungsmangel, aber auch der Mangel an sozialer Teilhabe mit dieser Generation an Kindern und Jugendlichen macht, daran mag ich gar nicht denken. Es steht nicht weniger als die körperliche und seelische Gesundheit von Millionen von Kindern und Jugendlichen auf dem Spiel. Von den Auswirkungen auf unser Gesundheits- und Gesellschaftssystem ganz zu Schweigen.
Ich bin gerne dazu bereit, als Geschäftsführer der Füchse Berlin meinen Beitrag zu leisten. Wenn sich die Coronalage weiter verschlechtert, sollten wir lieber den Spielbetrieb in den Profiligen einstellen als die Sporthallen wieder für den Nachwuchs abzuschließen. Ich würde eher die Meisterschaft und die Champions League opfern, als die Jugendligen wieder dauerhaft auszusetzen.
Schließt Fußballstadien und Weihnachtsmärkte, sagt Konzerte und Weihnachtsfeiern ab, aber lasst die Kinder und Jugendlichen dieses Mal in Frieden! Vieles kannst du mit Geld retten - die Jugend nicht.
- Bob Hanning, 53, ist seit 2005 Geschäftsführer der Füchse Berlin. Er führte den Verein in die Bundesliga und in die Champions League. Zudem kümmert sich Hanning seit Jahrzehnten als Trainer um den Nachwuchs, gewann mit den Füchsen etliche deutsche Jugendmeisterschaften und holte mit der Berliner Schulmannschaft gerade am vergangenen Wochenende den Titel bei der Schüler-Weltmeisterschaft. Von 2013 bis 2021 war Hanning zudem als Vizepräsident beim Deutschen Handballbund. Zu seinem freiwilligen Ausscheiden aus dem Ehrenamt im Oktober veröffentlichte er seine Autobiografie „Hanning. Macht. Handball.“
Bob Hanning