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Tatsächlich Bronze? Dimitrij Ovtcharov kann es seinen Erfolg selbst kaum fassen.
© AFP

Bronze im Tischtennis: Unverhofft kommt Ovtcharov

Bronze, und er kann es selbst nicht glauben: Ausgerechnet der Grübler im Nationalteam holt unbeschwert als erst zweiter Deutscher Tischtennisspieler eine Einzelmedaille.

Was denn, ich? Eine Medaille? Das kann doch nicht wahr sein! Nachdem er seinen letzten Punkt gemacht hatte, kam Dimitrij Ovtcharov nicht in der Wirklichkeit an. Der Wirklichkeit, dass er sich gerade die Bronzemedaille im olympischen Tischtennisturnier erspielt hatte. Er hob ungläubig beide Arme, er schüttelte den Kopf, und als er sich auf den Stuhl neben seinen Trainer Jörg Roßkopf plumpsen ließ, murmelte er wie ein Mantra: „Das glaube ich nicht, das glaube ich nicht.“

Aber Ovtcharov hatte es geschafft. Roßkopf nahm ihn in den Arm und zeigte ihm das Ergebnis: „Schau doch da an die Tafel“, sagte er zu Ovtcharov, „da steht Winner.“ Das Spiel um Platz drei hatte Ovtcharov gegen Chuang Chih-Yuan aus Taiwan mit 4:2-Sätzen gewonnen. Zehn Minuten später konnte er es langsam begreifen. „Oah, das ist unglaublich, es ist wie Gold. Ich bin so glücklich und dankbar.“

Hinter ihm lag ein wildes Gefühlswellenreiten. Um zehn Uhr morgens britischer Zeit hatte er noch gegen den Weltmeister Zhang Jike aus China um den Einzug ins Finale gspielt. Ein paar kleine Chancen taten sich auf, die meisten davon konnte Ovtcharov nicht nutzen, weil ihm Zhang Jike die Bälle mit so viel Qualität hinschleuderte, dass ihm kaum Zeit zum Reagieren blieb. Ovtcharov gewann einen Satz, den dritten, und kam danach beim 9:10 im vierten noch einmal heran. Aber Zhang Jike spielte in den entscheidenden Phasen sicherer und aggressiver und gewann 4:1. Auch im Finale triumphierte Zhang Jike gegen seinen Landsmann Wang Hao, rannte nach dem verwandelten Matchball durch die Halle und küsste die oberste Stufe des Siegerpodests.

Die deutschen Medaillengewinner

Ovtcharov blieben nach seiner Niederlage gegen Zhang Jike nur drei Stunden und vierzig Minuten, um sich auf das Spiel um Bronze vorzubereiten. Seinem Gegner Chuang Chih-Yuan sogar noch eine Stunde weniger. „Da steht das nächste Spiel deines Lebens nur gut drei Stunden später an“, sagte Ovtcharov. Er besprach sich kurz mit Jörg Roßkopf. Der wusste genau, in welcher Situation sich Ovtcharov befand. Bei Olympia 1996 in Atlanta hatte Roßkopf ebenfalls das Halbfinale verloren und kurze Zeit später das Spiel um Bronze bestreiten müssen. Er gewann damals gegen den Tschechen Petr Korbel. Bis zum Donnerstag war es die einzige olympische Einzelmedaille eines deutschen Tischtennisspielers. „Eigentlich wühle ich nicht in der Vergangenheit“, sagte Roßkopf, „aber diesmal war es etwas anderes. Ich habe ihm gesagt, dass es jetzt nicht Zeit ist, um Fehler zu analysieren.“

Leicht gesagt bei einem wie Ovtcharov, der Spiele im Nachhinein bis ins Kleinste zerlegt, besonders Spiele, die er verloren hat. „Vielleicht bekommt man im Leben nur einmal die Chance, um eine olympische Medaille kämpfen zu dürfen“, sagte Roßkopf und ließ Ovtcharov im Hotelzimmer nahe der Wettkampfhalle Excel erst einmal allein.

Ovtcharov versuchte Abstand zu gewinnen, nachdem er sich noch „200 Gramm Reis beim Chinesen“ geholt hatte, um ein paar Kohlenhydrate zu bekommen. „Soße hätte ich eh nicht runterbekommen.“

Sein Spiel gegen Chuang begann er nervös und lag gleich 0:5 hinten. „Chuang war früher mein Idol, weil er so stark beidseitig mit der Vorhand und Rückhand spielt“, sagte Ovtcharov. In London spielte Chuang so gutes Tischtennis wie vielleicht noch nie. Auch die Begegnung um Bronze fand zur Freude der knapp 6000 Zuschauer auf so hohem Niveau statt, dass beide eine Medaille verdient gehabt hätten. Trotz des Rückstands gewann Ovtcharov noch den ersten Satz. Den zweiten gab er ab, den dritten ebenso, ehe er das Spiel wieder besser in den Griff bekam. Der vierte Satz war besonders hart umkämpft, 13:11 entschied ihn Ovtcharov für sich. Die Ballwechsel waren spektakulär, die entscheidenden gingen zugunsten des Deutschen aus, bis er den Matchball mutig mit einer krachenden Rückhand verwandelte. „Wenn er realisiert hätte, dass das der Matchball war, hätte er diesen Ball vielleicht nicht so gespielt“, sagte Roßkopf hinterher lächelnd.

Ovtcharov hatte die Medaille, die eigentlich Timo Boll gewinnen sollte, weil der schon so lange in der Weltspitze spielt und auch die Chinesen besiegen kann. So aber griff sich der 23 Jahre alte Ovtcharov Europas erste olympische Einzelmedaille seit zwölf Jahren, seit der Schwede Jan-Ove Waldner in Sydney Silber geholt hatte. Was Ovtcharov erreicht hatte, das hatten andere schneller realisiert als er. Allein auf dem Weg vom Tisch bis zu den ersten Interviews gingen auf seinem Handy 48 Kurzmitteilungen ein.

Friedhard Teuffel

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