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Alle sind alle, jeder für sich.
© AFP

WM 2014 - nach dem Aus für Italien: Untergang einer Fußballkultur

Italien sucht einen Schuldigen für das erneute Vorrunden-Aus. Trainer, Hitze, Schiedsrichter, Streit oder Rassismus seien die Ursachen. Doch die Probleme liegen tiefer, Reformen sind kaum in Sicht.

Am Ende war Mario Balotelli allein. Schweigend und mit Kopfhörern auf den Ohren ging der Stürmer an den italienischen Reportern vorbei, der Rest der Mannschaft weilte noch in der Kabine. Erst zwei Stunden nach Spielende kamen die italienischen Nationalspieler heraus, nachdem Andrea Pirlo nach seinem wohl letzten Länderspiel gegen Uruguay eine Ansprache gehalten hatte. Der Bruch, er war nicht mehr zu übersehen nach dem Ausscheiden der Squadra Azzurra. Ein Bruch, der sich quer durch die Mannschaft, Verbände, Klubs und den ganzen italienischen Fußball zieht. „Azurblaues Desaster. Unser Fußball ist wie ein Ball, dem die Luft ausgeht. Alles muss sich ändern“, schrieb „La Repubblica“, der „Corriere della Sera“ erklärte das Aus zu einem „nationalen Fall“. Das erneute Scheitern in der Vorrunde der Weltmeisterschaft, es war kein Zufall. Nicht die Schuld eines Einzelnen, sondern einer ganzen Fußballkultur, die an ihr Ende stößt.

Nicht, dass es nicht Versuche gegeben hätte, einen Schuldigen zu finden. „Ich übernehme die sportliche Verantwortung“, sagte Cesare Prandellli und erklärte seinen Rücktritt als Nationaltrainer. Kurz darauf folgte ihm Verbandschef Giancarlo Abete. In Italien ist ein Umbruch nun zwingend – oder doch nicht? Prandelli hielt sein Rücktritt nicht davon ab, schimpfend eine Menge Ausreden zu bemühen: etwa den Schiedsrichter, der den Italiener Claudio Marchisio zu Unrecht vom Platz gestellt und einen Schulterbiss des Uruguayers Luis Suarez übersehen hatte. „Der Schiedsrichter hat die Partie ruiniert“, klagte Prandelli. Nachdem seine kraftsparende Defensivtaktik nicht aufgegangen war, lamentierte der Trainer erneut über die Hitze: „Wir waren die einzige Mannschaft, die in Manaus gespielt hat, zweimal um 13 Uhr.“

Seine Landsleute griff Prandelli ebenfalls an. Die Kritik nach seiner Gehaltserhöhung im Mai für einen neuen Vertrag bis 2016 scheint ihn schwer getroffen zu haben. „Ich habe nie jemandem Geld gestohlen“, sagte der 56-Jährige. „Wir haben keinen Sinn für Patriotismus.“ Auch die Mannschaft fiel übereinander her. „Man hört immer wieder, dass es einen Wandel braucht, dass Pirlo, Buffon, Barzagli und de Rossi alt sind“, schimpfte Kapitän Gianluigi Buffon. „Aber wenn es darum geht, den Karren aus dem Dreck zu ziehen, stehen genau diese Spieler immer in der ersten Reihe.“ Italienische Medien berichteten von Streit zwischen den erfahrenen Weltmeistern von 2006 und den jüngeren Spielern und Reservisten im Kader.

Das Ende des Calcio?

Vor allem Balotelli stand in der Kritik. Prandelli habe den Angreifer nach einem Wortgefecht über taktische Anweisungen ausgewechselt, hieß es. Der Trainer selbst sprach davon, das Spiel nicht zu zehnt beenden zu wollen.  Im Internet gab es Spott über den Sohn ghanaischer Einwanderer. Fotomontagen zeigten ihn, wie er einen Pflug über einen Acker zog, er solle sich nützlich machen. Balotelli wehrte sich. „Die Afrikaner würden nie einen ihrer Brüder beschuldigen“, schrieb der 23-Jährige bei Twitter. „In dieser Sache sind wir Neger, so wie ihr uns nennt, euch Lichtjahre voraus. Eine Schande ist nicht derjenige, der vielleicht eine Torchance vergibt oder mehr oder weniger läuft. Beschämend sind diese Sachen.“

Die Suche nach Schuldigen rund um die Abreise der Italiener am Mittwoch aus Rio überdeckte jedoch nur die tiefer liegenden Ursachen. Genau wie der Einzug ins Finale der Europameisterschaft vor zwei Jahren. Die Auswahl an Spielern ist für Trainer Prandelli begrenzt, in internationalen Topklubs sind keine italienischen Stammspieler zu finden, und auch in der heimischen Serie A sind sie mit 44 Prozent in der Unterzahl. „Es gibt zu viele Ausländer, zu viele Klubspiele und zu wenig Zusammenarbeit“, klagte Prandelli.

Als seine Nachfolger wurden direkt Roberto Mancini, Massimiliano Allegri und Luciano Spalletti gehandelt. Wer neuer Nationaltrainer wird und ob er bessere Bedingungen vorfindet, hängt davon ab, wer auf einer Verbandssitzung am 11. August Nachfolger Abetes wird. Der Präsident habe schon vor der WM zurücktreten wollen, ermüdet von vielen Verbandsstreitigkeiten. Als Nachfolger wird Demetrio Albertini gehandelt. Der frühere Nationalspieler würde als Reformer antreten, doch muss er den Widerstand der Verbände und Vereine überwinden. Die profitieren offenbar bisher vom Status quo – wenn auch eher finanziell als sportlich.

„Der Fußball stirbt wegen zu vieler Leute in Anzug und Krawatte und zu wenigen in Trainingsanzügen“, kritisierte die „Repubblica“ und stellte das Scheitern der Nationalmannschaft in einen größeren Zusammenhang. Korruption, Spielmanipulationen, Gewalt, Rassismus, marode Stadien und fehlende internationale Wettbewerbsfähigkeit plagen den italienischen Fußball seit Jahren. Der Calcio liege im Sterben, „wie Ciro“. Der 30-jährige Napoli-Fan Ciro Esposito war im Mai beim Pokalfinale von Rom-Anhängern niedergeschossen worden. Am Mittwoch erlag er seinen Verletzungen.

(mit dpa)

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