Niederlage gegen Kroatien: Trost von Putin für das verliebte Russland
Das russische Fußballmärchen findet in Sotschi gegen Kroatien ein Ende – ohne die letzten beiden Kapitel. Die Enttäuschung im Land ist groß.
Am lautesten ist das Meer. Ein leichter Wind ist aufgekommen, er weht auf die Strandpromenade und drückt die Wellen gegen die Kaimauer. Normalerweise dröhnt hier Musik aus Lautsprecherboxen, aber in diesen frühen Stunden des Sonntags ist keinem nach Party. Schweigend zieht die Prozession durch das nächtliche Sotschi. Vom Fischt-Stadion den Olympisky Prospekt hinunter, vorbei an geschlossenen Bars und Restaurants. Leise Unterhaltungen werden geführt, wo am frühen Abend noch laute „Rossija! Rossija!“-Rufe zu hören waren. Das russische Fußballmärchen hat am Samstag ein Ende gefunden. Ohne die letzten beiden Kapitel, die doch in der abschließenden WM-Woche noch dazukommen sollten.
Russlands Fußball-Nationalmannschaft hat sich von der Weltmeisterschaft verabredet. In allen Ehren, im Viertelfinale nach Elfmeterschießen gegen Kroatien. Es ist nicht so wie vor zwölf Jahren, als in Deutschland auch Menschen, die sich vorher nie für Fußball interessiert hatten, in eine partielle Depression fielen, nach einer Niederlage im Halbfinale gegen Italien. Keine Verzweiflung, nur ein bisschen Wehmut, dass es vorbei ist. Sie wären schon gern noch ein bisschen länger dabei gewesen und sind doch sehr zufrieden damit, wie eine Gruppe jenseits von Russland kaum bekannter Männer die Heimat vor den Augen der Welt vertreten hat. Es gibt keine Ausschreitungen, keine Pfiffe.
Russland hat sich an sich selbst berauscht
In Moskau hoffen Zehntausende beim Fanfest auf dem Gelände der Lomonossow-Universität bis zum Schluss, aber in der Innenstadt gibt es erstmals nach einem russischen WM-Spiel keine Autokorsos. In Sotschi ist der Beifall für die Verlierer freundlich, doch das Stadion leert sich schnell. Vier Wochen lang hat sich Russland an sich selbst berauscht, in der Nacht von Sotschi rauscht jetzt nur noch das Meer.
Stanislaw Tschertschessow wirkt in der Niederlage so gefasst wie nach den jüngsten Siegen, die er ja auch nicht exzessiv bejubelt hat. Natürlich wird der russische Trainer gefragt, ob denn der Präsident dagewesen sei, im Stadion und in der Kabine. Nein, sagt Tschertschessow, „aber der Premierminister Medwedew war gerade bei uns, ich konnte leider nicht mit ihm reden, weil ich keine Zeit hatte. Und Präsident Putin hat angerufen“, vor dem Spiel und auch danach. „Er hat uns gratuliert und gesagt, wir sollen nach vorne schauen und den nächsten Schritt machen.“
Später in der Nacht lässt Putins Sprecher Dimitri Peskow via Interfax ausrichten, die russische Mannschaft habe „in einem ehrlichen und schönen Spiel verloren“. Russland könne stolz auf seine Spieler seien, „sie sind Helden. Sie sind auf dem Feld gestorben“. Ein bisschen martialisch darf es dann doch sein.
Trainer macht gut, weil authentische PR
Stanislaw Tschertschessow hat in den vergangenen Wochen hingegen kein einziges Mal die nationalistische Klaviatur bedient. Seit Jahren hat niemand so gute, weil authentisch wirkende PR für Russland gemacht, wie dieser lustige Mann mit dem kahlen Kopf und dem gewaltigen Schnauzbart. Auf die Frage, was denn er und seine Mannschaft bei der WM bewirkt haben, sagt er nach kurzem Überlegen: „Wir haben das Land auf den Kopf gestellt, das freut uns. Ich glaube, ganz Russland hat sich in uns verliebt.“ Das war mehr, als zu erwarten stand nach den doch sehr bescheidenen Ergebnissen in der Vorbereitung.
Auch Tschertschessow hatte vor dem Eröffnungsspiel nicht so recht gewusst, wo seine Mannschaft stand. Dass sie dann gleich fünf Tore gegen Saudi-Arabien schoss und nochmal drei im zweiten Spiel gegen Ägypten, hat die unverhoffte Zuneigung der Landsleute zu den vorher nicht mal belächelten Fußballspielern auf den Weg gebracht. Eine Liebesbeziehung wurde daraus vor einer Woche, nach dem sensationellen Sieg im Achtelfinale über Spanien. Es ist schon ein wenig tragisch, dass die Russen ausgerechnet nach ihrem wohl besten WM-Spiel Abschied nehmen mussten.
Das Achtelfinale gegen die drückend überlegenen Spanier war eine Abwehrschlacht ohne einen einzigen Torschuss aus dem Spiel heraus. Gegen Kroatien aber spielten die Russen mit. Sie waren in der ersten Halbzeit besser, kassierten ein blödes Gegentor und schafften in der Verlängerung ein großartiges Comeback, als sich die Kroaten nach ihrem zweiten Tor schon im Halbfinale wähnten. Nach dem späten Ausgleichs durch Mario Fernandes machten die russischen unter den 44.000 Zuschauern einen Lärm, der die georgischen Nachbarn ein paar Kilometer weiter südöstlich aus dem Schlaf gerissen haben dürfte.
Russen waren Nervenspiel nicht gewachsen
Und das Elfmeterschießen? Ein Nervenspiel, dem die Russen nach den intensiven 120 Minuten nicht mehr gewachsen waren. Tschertschessow erzählt in der Nacht, wie er auf der Suche nach Schützen über den Rasen getigert und bei Roman Sobnin hängen geblieben sei, dem Mittelfeldspieler von Spartak Moskau. „Ich habe ihn gefragt: ‚Roman, willst du schießen?’ Er hat mich angeschaut, als wüsste er gar nicht, wo er sich gerade befindet.“
Sobnin hätte das russische Pendant zu Christoph Kramer sein können. Zu dem deutschen Nationalspieler, der beim WM-Finale 2014 in Rio mit einem Argentinier zusammenrasselte, mit einer Gehirnerschütterung weiterspielte und irgendwann den Schiedsrichter fragte, ob das hier das WM-Finale sei. Kramer und die Deutschen bekamen ihr Happy End, Sobnin und die Russen nicht.
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