Nach Kießlings Phantomtor: Traut euch über die Linie!
Das Bundesliga-Phantomtor von Leverkusens Stefan Kießling zeigt es deutlich. Der Fußball muss sich endlich der Moderne öffnen und technische Hilfsmittel zulassen, meint unser Autor Christoph Dach.
Es ist schon jetzt die Szene des Fußballjahres. Stefan Kießlings Nichttor durch ein Loch im Netz hält die Fußballwelt in Atem. Seit Tagen wird auf allen Kanälen und Ebenen diskutiert: auf der moralischen, sportlichen, juristischen. Historische Vergleiche werden herangezogen, von der womöglich bekanntesten Ungerechtigkeit des Fußballs, dem legendären Wembley-Tor, über Wembley Reloaded, dem WM-Achtelfinale 2010 also, bis hin zu den Phantomtorschützen der Bundesliga-Neuzeit, den Helmers und eben Kießlings. Und dann? Verstummt die Diskussion genauso schnell, wie sie aufgekommen ist – bis beim nächsten irregulären Tor die üblichen Reflexe einsetzen? Nein, nun muss die Endlosschleife ein Ende haben.
Es ist eine Schande, dass sich der Fußball bis ins Jahr 2013 gegen simple Regeländerungen wie die Einführung der Torlinientechnologie versperrt hat. Was in anderen Sportarten, im Tennis, Eishockey, oder Basketball, längst dazugehört wie das entsprechende Spielgerät, war für die Entscheidungsträger in den großen Fußball-Verbänden lange Zeit ebenso ein Tabuthema wie an den Stammtischen der Republik. Unter „www.wahre-tabelle.de“ haben sich ein paar Enthusiasten zwar zur Aufgabe gemacht, die Tabelle samt Fehlentscheidungen zu begradigen, aber das war’s dann an Widerstand.
Erst als die Missstände zu offensichtlich wurden, bei den bis in alle Winkel ausgeleuchteten Großturnieren, musste selbst die Fifa reagieren. Präsident Sepp Blatter hatte sich bis zur WM 2010 viele Jahre gegen technische Neuerungen gesträubt, nach dem nicht gegebenen Treffer des Engländers Frank Lampard, dessen Schuss gefühlte 50 Zentimeter hinter der deutschen Torlinie gelandet war, musste sich Blatter jedoch dem öffentlichen Druck beugen. Wenig später ordnete er Überwachungssysteme für den Confed-Cup an. Die Kameras von „Hawkeye“ kommen mittlerweile auch in der englischen Premier League zum Einsatz und haben an den ersten Spieltagen bereits einige Irritationen nach strittigen Szenen ausgeräumt, das ähnlich funktionierende deutsche Pendant „Goal Control“ hat bei der WM-Probe in Brasilien seine Tauglichkeit für die Weltmeisterschaft 2014 nachgewiesen. Auch Kießlings Phantomtor wäre am Freitag nicht gefallen, wenn eines der verfügbaren Torliniensystem installiert gewesen wäre – weil der Ball entweder das Magnetfeld im Torrahmen nicht passiert hätte oder die Bilder des Zentralcomputers geklärt hätten, dass er über Umwege im Netz gelandet war.
Dynamik und Schnelligkeit haben sich radikal verändert
Auch in der Bundesliga hat man diese Systeme in Erwägung gezogen, sich bisher aber noch gegen ihre Einführung gesträubt. Nun könnte ausgerechnet Kießlings Nichttreffer den entscheidenden Anstoß dafür gegeben haben. Darüber hinaus gibt es viele gute Gründe für die Torlinientechnologie. Sie liegen unter anderem in der Evolution der Sportarten begründet. Keines der oben genannten Spiele ist mehr mit dem vergleichbar, was man in den 70er, 80er und 90er Jahren unter Basketball, Eishockey oder eben Fußball verstand. Dynamik und Schnelligkeit haben sich radikal verändert, es ist mehr Geld im Spiel, folglich wächst auch der Druck. Das macht es auch für die Schiedsrichter schwerer, immer die richtige Entscheidung zu treffen. Wobei: Verlangt das überhaupt jemand?
Es geht ja gar nicht darum, die Richtigkeit jedes Einwurfs und jeder Abseitsposition mit technischen Hilfsmitteln auszuleuchten. Die heilige Tatsachenentscheidung kann ja im Spielfluss bestehen bleiben. Aber bei der zentralsten aller Fragen muss Klarheit herrschen, zumal im Fußball ohnehin nicht immer die bessere Mannschaft gewinnt, das bringt dieses low score game im Gegensatz zu Basketball oder Handball nun mal mit sich.
Tor oder nicht Tor? Bei dieser Frage geht es nicht an, dass die Schiedsrichter dastehen wie die Dümmsten im Stadion. Und das tun sie, weil ihnen auf den Videowürfeln der Arenen binnen Sekunden vor Augen geführt wird, elementar falsch gelegen zu haben. Das führt nicht selten zu Konzessionsentscheidungen wie am Freitag, als Felix Brych kurz nach Kießlings „Tor“ auf Elfmeter für Hoffenheim entschied, obwohl das Foulspiel deutlich außerhalb des Strafraums begangen worden war. Ob das dem Spiel auf Dauer gut tut?
Die Traditionalisten sagen: Zumindest schadet es dem Empfinden nicht so wie die befürchteten Unterbrechungen bei Einführung der Tortechnik oder – eines Tages? – des Videobeweises. Eine schwache Argumentationskette, denn der Sport bietet wie kaum ein anderer Bereich die Möglichkeit klar messbarer Parameter, das macht ihn aus und wird es hoffentlich auch künftig tun. Man kann den Ausgang eines Spiels nicht von der Ehrlichkeit eines Spielers abhängig machen.
Überdies führen Kritiker der Torlinientechnologie gern das Argument ins Feld, dem Fußball würde dadurch der Diskussionsstoff ausgehen. So nach dem Motto: Worüber soll ich mich dann eigentlich noch aufregen? Mal ganz ehrlich: Können Sie sich an eine Woche entsinnen, in der mal kein Familienmitglied, Freund oder Kollege über Fußball diskutiert hat? Dazu braucht es gar keine Phantomtore.
Christoph Dach