Sportwissenschaftler im Radsport: Tour de France: Die Leistungsdaten der Profis
Der Sportwissenschaftler Vayer untersucht die Leistungsdaten der Tourfahrer und gibt Hinweise auf Doping. Seine Berechnungen finden zunehmend Beachtung.
Radsport ist kein Sport nur für einen Tag. Der Formaufbau für eine große Rundfahrt dauert Monate. Wer sie gewinnen will, braucht Jahre, um das notwendige Niveau an Kraft, Ausdauer und auch Widerstandskraft zu entwickeln. Nicht zuletzt müssen sich die aktuellen Profis immer mit den Gestalten messen lassen, die vor ihnen Geschichte geschrieben haben. „Das ist wie Hinault“, jubelte ein französischer Fernsehkommentator, als Thibaut Pinot am Dienstag am Port de Balès das dort schon geschrumpfte Favoritenfeld attackierte. Mächtigen Tritts jagte der Mann aus den Vogesen davon, zeitweilig distanzierte er sogar den Zweitplatzierten Alejandro Valverde.
Bernard Hinault, vor 29 Jahren letzter Toursieger der Franzosen und damit Referenzgröße für Pinot, lobte in seinem Blog im „Figaro“ den jungen Landsmann für dessen „tolle Arbeit“. Er traute seinem potenziellen Nachfolger sogar den Angriff auf das Gelbe Trikot zu. „Er hat viel Saft.“
Leistungswerte im grünen Bereich
Viel Saft hat Pinot auch im Vergleich mit den Radprofis, die in früheren Jahren den Port de Balès hinaufstampften. Er setzte sich gleich an die Spitze der Allzeitbestenliste. Mit 32:50 Minuten war er mehr als eine Minute schneller als das bisherige Rekordtrio Denis Mentschow, Samuel Sanchez und Alberto Contador. Bei Mentschow wurden später verdächtige Blutwerte festgestellt, Contador wurde der Toursieg wegen einer positiven Clenbuterolprobe aberkannt. Sie waren an diesem Tag auch nicht wie Radtouristen durch die bezaubernde Berglandschaft gefahren. Als dann drei Kilometer vor dem Gipfel die Kette vom Rad des Luxemburgers Andy Schleck sprang, enteilten Contador, Sanchez und Mentschow – im Rückblick war es die rennentscheidende Etappe der Tour 2010.
Pinot war in diesem Jahr noch schneller. Das ist ein Novum. In den Alpen, bei der Kletterei hinauf nach Chamrousse, war Vincenzo Nibali deutliche 2:17 Minuten langsamer als Lance Armstrong beim Bergzeitfahren des Jahres 2001 auf der gleichen Strecke. In den Vogesen blieb der aktuelle Dominator im historischen Vergleich um 22 Sekunden hinter Chris Froome und 20 hinter Bradley Wiggins zurück. Allerdings lagen deren Leistungswerte laut Berechnungen des französischen Sportwissenschaftlers Antoine Vayer im tiefen grünen, also „menschlichen“ Bereich. Armstrongs Wert in Chamrousse beziffert Vayer auf 439 Watt. Das fällt in seine Kategorie „wundersam“. Nibali leistete Kletterarbeit für 405 Watt – in Vayers Skalierung ist dies weiterhin „menschenmöglich“. Auch Mentschows, Contadors und Sanchez’ Leistung am Port de Balès lag mit 407 Watt noch knapp unterhalb der Beunruhigungsgrenze von 410 Watt. Pinot und Nibali hingegen haben laut Nachfrage bei Vayer 415 Watt erreicht.
Vayers Berechnungen haben Relevanz
Vayer selbst hält das aber noch nicht für komplett beunruhigend. „Dieser Anstieg hatte einige Besonderheiten. Den Rekord gebrochen und die Zeit weit unterboten hatte schon Team Movistar, das über lange Zeit führte. Pinot und die anderen waren dann ungefähr so schnell unterwegs wie das Trio Contador, Mentschow und Sanchez.“ Mit einer Beurteilung, ob die Leistungen von ungedopten Körpern erbracht wurden oder nicht, will er sich zurückhalten. „Wir müssen abwarten, wie die Fahrer sich erholen und was sie an den anderen Pyrenäentagen leisten“, sagte er dem Tagesspiegel.
Tatsächlich konnte Pinot am Mittwoch beim Etappensieg des Polen Rafal Majka in Saint-Lary Pla d'Adet das Tempo des Gesamtführenden und Tageszweiten Nibali nicht halten. Auch Valverde und Leopold König büßten einiges an Zeit gegenüber dem Italiener ein. Die nächsten „Bergradar“-Daten von Sportwissenschaftler Vayer dürften auch deshalb interessant sein. Zumal sich seine Methode mittlerweile der Wertschätzung auch anderer Experten erfreut. Ein Vergleich seines Kalkulationsansatzes mit real gemessenen Wattzahlen ergab eine Fehlerstreuung von ein bis drei Prozent. In etwa den gleichen Streufaktor weist laut dem Blog „sportsscientists.com“ auch der Ansatz von Michele Ferrari auf.
Ungeachtet seines schlechten Leumunds als Doping-Guru darf man Ferrari exzellente Kenntnisse in der Leistungsmessung unterstellen. Vayers Berechnungen haben also Relevanz. Seine überraschende Zurückhaltung in der Interpretation der Daten signalisiert aber auch, dass man nicht zu schematisch an den Schwellen festhalten sollte, zumal die Zahlen im Gesamtkontext zu sehen sind. Die Tour 2014 sorgt in jedem Falle für Zweifel in beide Richtungen: Es ist gut möglich, dass die Spitzenfahrer weiter gedopt sind. Es gibt aber auch einige Berechtigung, das Vorurteil anzuzweifeln, es würden ohnehin alle dopen.