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Gegen den FC Bayern hat der englische Torwart Joe Hart die englische Tradition von groben Torwartfehlern geehrt.
© reuters

Live von der Insel – Die Fußball-Kolumne über England: Torwartfehler – eine englische Tradition?

Immer dienstags schreibt unser Kolumnist Kit Holden ab sofort über den englischen Fußball. Zum Auftakt beschäftigt er sich mit Nationaltorwart Joe Hart, der zurzeit unter einem alten Problem der englischen Torhüter leidet.

Mit Franz Beckenbauer hat alles angefangen. Bis zu dem Moment waren englische Torhüter keine Fliegenfänger. Aber gegen dreizehn Uhr zwanzig am 14. Juni 1970 im mexikanischen Leon hat der Kaiser alles verändert. Er lief elegant mit dem Ball an Alan Mullery vorbei und schoss niedrig und kraftvoll in Richtung des englischen Torwarts Peter Bonetti. Bonetti ließ den Ball unter ihm und ins Netz gleiten. Spielstand 1:2. Die deutsche Aufholjagd hatte begonnen.

Beckenbauer und seine Teamkollegen gewann letztendlich dieses WM-Viertelfinale 1970, und beendeten damit Englands kurze und einzige Zeit als Weltmeister. Peter Bonetti spielte kein einziges Mal wieder für die englische Nationalelf.

Tatsächlich war Bonetti ein großer. Damals hatte er gerade zwei FA-Cups mit Chelsea gewonnen, und wurde damals zum besten Spieler der Vereinsgeschichte gewählt. Dass er nur siebenmal für sein Land auflaufen durfte, liegt nur an der Brillanz von Gordon Banks. Er sollte nicht für den Fehler gegen Beckenbauer in Erinnerung bleiben.

Bonettis Fehler wurde aber zum Grundstein einer englischen Tradition: Torwartpatzer. Nur drei Jahre später verpasste der große Peter Shilton – der immer noch die meisten Länderspiele für England absolviert hat – einen Schuss von Jan Domarski und schenkte damit den Polen das 1:0. Wegen dieses Tores ist England in der Qualifikation für die WM 1974 gescheitert.

Drei Jahre nach diesem Debakel gab es Ray Clemence, der peinlich gegen Schottland patzte. 2002 flatterte David Seaman hilflos als der Freistoß von Ronaldinho über seinen Kopf und ins Netz einschliff. Mal wieder war das im WM-Viertelfinale, diesmal in Shizuoka. 2010 konnte Rob Green Clint Dempseys schwachen Schuss nicht halten im WM-Gruppenspiel gegen die USA. Und das alles ohne mit den groben Fehlern von Paul "Misses" Robinson, Scott Carson und David „Calamity“ James überhaupt anzufangen.

So kommen wir letztendlich zu Joe Hart. Am Anfang seiner Karriere bei der Nationalmannschaft schien Hart es gar nicht mitbekommen zu haben, dass englische Torhüter sich blamieren müssen. Er war solide, unterhaltsam und intelligent. Noch ganz weit weg vom perfekten Torwart, sah er zumindest immer selbstbewusst und sicher im England-Trikot aus.

Plus ça change, plus c'est la même chose ("Je mehr sich verändert, desto mehr bleibt unverändert") – wie man komischerweise auf Englisch sagt. Wie alle guten Engländer liebt Hart die Tradition. Im vergangenen August ließ er pflichtgetreu den Ball nach einem Schuss von James Morrison aus seinen Händen ins Netz fallen – und plötzlich führte Schottland 1:0 im Wembley.

Warum patzen englische Torhüter so oft? – Vielleicht ist das gar nicht so.

Unzufrieden mit nur einem Fehler hat Hart nun einen Saisonauftakt voller Pannen hingelegt. Dafür wird er mit der normalen Schmähung bedacht, die auf einen englischen Torhüter gerichtet wird. Nach Fehlern gegen Cardiff City, Aston Villa und zuletzt gegen den FC Bayern steht Hart jetzt mitten im Rampenlicht der reaktionären Kritik.

Peter Shilton, der es übrigens besser wissen sollte, hat neulich gemeint, dass Hart nur einen Fehler alle achtzehn Monate machen sollte, und der englische Nationaltrainer Roy Hodgson wurde sogar gefragt, ob er noch Vertrauen in seine Nummer eins hätte. Wer ehrlich erwartet hatte, dass ein so vernünftiger und wissenschaftlicher Mann wie Hodgson überhaupt etwas außer "Ja" als Antwort geben würde, muss schon verrückt gewesen sein. Harts Fehler in den vergangen Wochen sind zwar peinlich gewesen. Er bleibt aber der einzige wirklich talentierte Torwart auf der Insel. Ihn aus dem Kader zu streichen, wäre Schwachsinn.

England hat aber ein besonderes Talent für Schwachsinn. Aus jedem halbbegabten Spieler wird ein Hoffnungsträger der Nation gemacht. Wenn diese Spieler dann ihre Form verlieren, werden sie genüsslich nieder geschrieben. So ist es auch mit Hart gewesen. Eigentlich hat er immer solche Fehler gemacht, auch schon bevor er Nummer eins wurde. Aber ein Stammspieler Englands darf überhaupt keinen Fehler machen. Denn so enttäuscht er nur die ganzen Erwartungen, die ihm die Öffentlichkeit in seiner früheren Karriere geschenkt hat.

Die Wahrheit ist aber, dass Hart immer noch ein fantastischer Torwart ist. Seine Spielweise ist aber abenteuerlich, und wie Manuel Neuer, Wojciech Szczesny und Victor Valdes macht er deswegen Fehler. Wenn er außer Form ist, kommen diese Fehler öfter und prominenter vor.

Aber warum machen nun englische Torhüter besonders viele peinliche Fehler? – Vielleicht ist das gar nicht so. Vielleicht ist man in England nur so schnell dabei, den Torwart nach einem Fehler aus dem Kader zu streichen, dass viel mehr Torhüter überhaupt die Möglichkeit bekommen, einen Fehler zu machen. Man muss nur die Beispiele von Robinson, Carson, Green und James beachten.

Joe Hart hat hingegen das Potenzial, in einem Atemzug mit Shilton, Clemence und Seaman (wenn schon nicht Banks) erwähnt zu werden. Gott sei Dank, dass Roy Hodgson klarer als jeder andere sieht, dass der ein oder andere Fehler dieses Potenzial nicht ändert. Was die Hysterie betrifft, muss Joe Hart einfach akzeptieren, dass die Engländer gern einen blamierten Torwart auslachen. Plus ça change.

Kit Holden ist Engländer und arbeitet derzeit als Praktikant beim Tagesspiegel. Er schreibt auch über deutschen Fußball für die englische Tageszeitung "The Independent".

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