Jerome Boateng: Tore aus der Tiefe
Jerome Boateng gilt inzwischen als das Paradebeispiel eines modernen Innenverteidigers. Deswegen hat ihm Thomas Müller einen schmeichelhaften Spitznamen verpasst.
Dass Thomas Müller nie um einen Kringel auf und neben dem Platz verlegen ist, ist inzwischen bekannt. Nach dem gerade aus seiner Sicht recht unterhaltsamen Spiel seines FC Bayern München gegen Borussia Dortmund (5:1) bedankte sich der zweifache Torschütze Müller bei einem Vorlagengeber auf unorthodoxe Weise. Jerome Boateng wolle er jetzt nur noch „den Kaiser“ nennen. In Anlehnung Franz Beckenbauers, der seinerseits als Verteidiger 60-Meter-Pässe in atemraubender Genauigkeit aus dem Fußgelenk schüttelte. Gegen Dortmund bereitete Boateng auf diese Art gleich zwei Tore vor, einmal mit links, einmal mit rechts.
„Das ist ein kleiner Spaß von ihm gewesen, die Pässe haben einfach geklappt“, sagte Boateng, und ließ die Huldigung seines Mannschaftskollegen abtropfen wie sonst nur seine Gegenspieler. Der 27-Jährige hat nämlich nicht nur reichlich Gefühl in seinen Beinen, er ist auch robust wie ein Baum und erreicht auf den ersten 30 Metern Sprintwerte wie kaum ein anderer Fußballprofi. Eine seltene Mischung, die ihm bei der Fachwelt höchste Anerkennung einbringt. Für viele war im WM-Finale von Rio nicht Bastian Schweinsteiger oder der Torschütze Mario Götze, sondern eben Jerome Boateng der beste Mann auf dem Platz.
Für Bundestrainer Joachim Löw ist er seitdem nicht mehr wegzudenken aus der Nationalmannschaft. Nach den Rücktritten von Philipp Lahm, Miroslav Klose und Per Mertesacker ist zudem ein Führungsvakuum entstanden, das bis zur kommenden EM im Sommer 2016 zu füllen ist. Es ist die Generation Boateng, die dafür in Frage kommt, also jene Spieler wie Manuel Neuer, Thomas Müller und Toni Kroos, die wie Boateng mehr als 50 Länderspiele bestritten haben. „Ich habe eine gute Entwicklung genommen und Verantwortung übernommen“, sagte Boateng vor dem Abschluss der EM-Qualifikation in Dublin gegen Irland (Donnerstag) und Georgien (Sonntag).
Innenverteidiger fungieren als eine Art Quaterback
Sein Vereinstrainer Pep Guardiola sieht in Boateng einen der besten Innenverteidiger der Welt. Für Nationalmannschaftskollege Ilkay Gündogan ist der Münchner bereits unter den Top drei: „Als Mittelfeldspieler wünscht man sich einen solchen Mann gern hinter sich in der Verteidigung“, sagte der Dortmunder – „wenigstens in der Nationalelf habe ich das Vergnügen.“
Dass Innenverteidiger längst nicht mehr nur in ihrem Kerngeschäft als Toreverhinderer gelten, sondern als erster Aufbauspieler, als Spielauslöser, das liegt an den Erfordernissen des modernen Fußballs. Angriffe beginnen heute tief in der eigenen Hälfte, Innenverteidiger fungieren als eine Art Quarterback, dafür benötigen sie Übersicht, Spielverständnis und einen ersten guten Pass. Boateng hat es in dieser Übung zu einer gewissen Meisterschaft gebracht. Er beherrscht den ersten vertikalen Pass über 20 oder 30 Meter, der Raumgewinn schafft, wie auch den langen Diagonalpass, der das Spielgeschehen sekundenschnell verlagert. Vorbei sind die Zeiten, in denen Löw seinen Verteidigern den weiten Pass nach vorn untersagte. Der Dortmunder Mats Hummels könnte lange davon erzählen. Inzwischen ist Löw in dieser Angelegenheit gnädiger geworden, weil Diagonalpässe zu Zeiten eines hohen gegnerischen Pressings ein probates Rezept seien können – vorausgesetzt, sie haben das richtige Timing.
Weder beim FC Bayern, noch im Nationalteam sei das Spiel auf lange Bälle im Stile eines Kick and Rush ausgerichtet, sagte Jerome Boateng schmunzelnd. Und wenn dann mal ein langer, schnöder Ball vorn reinkäme, der auch noch zum Tor führte, „wird der Bundestrainer auch nichts dagegen sagen“. Thomas Müller wohl auch nicht.