Amateurklubs: Tennis Borussia und Co - Tradition in Trümmern
Viele klangvolle Namen des deutschen Fußballs kämpfen inzwischen als Amateurklubs um ihre Existenz. Auch Tennis Borussia und Rot-Weiss Essen sind in die fünfte Liga abgestürzt. Ein Besuch.
Natürlich geht es auch ums Prinzip. Die erste Mannschaft hat gerade ihr Nachmittagstraining begonnen, und natürlich ist Günter Barchfeld da. Er steht auf der Haupttribüne des Georg-Melches-Stadions, lehnt mit den Unterarmen auf dem Geländer und schaut den Spielern bei ihren Übungen zu. Nur sehen kann er nichts. Bis zum Trainingsplatz sind es gut 200 Meter. Dazwischen lag einmal die Westtribüne, die Heimat der Fans von Rot-Weiss Essen. Seit 1994 ist dort das große Nichts, und dahinter erstreckt sich eine Schotterpiste, die offiziell als Baustelle ausgewiesen ist. Eine Baustelle, auf der nichts gebaut wird und die trotzdem nicht betreten werden darf.
„Hat jemand ein Fernglas?“, hat Barchfeld gefragt, als er aus der Vereinsgaststätte den Ausgang zu Block C herausgekommen ist. „Keiner, nä?“ Barchfeld ist 76, davon „63 Jahre im Verein“, er war Bergmann und Zeugwart bei RWE, und natürlich hat er zwei Dauerkarten, Reihe sieben, Platz elf und zwölf. Unterm Arm trägt der Rentner eine Mappe, in der er das ganze Drama akkurat dokumentiert hat. „Kann mir mal einer sagen, was mir passieren soll, wenn ich da hingehe?“, fragt er. „Traurig, oder?“ Günter Barchfeld erwartet keine Antwort.
Auf der Tribüne wird der Müll der letzten Saison zusammengekehrt, Kippen und Plastikbecher. Kleinkram. Mit dem großen Müll beschäftigt sich der Insolvenzverwalter. Ende des vergangenen Jahres hatte RWE 14 Millionen Euro Schulden, allein 2009 waren zwei Millionen hinzugekommen. Als die Stadt dann im Frühjahr eine Bürgschaft verweigerte, krachte alles zusammen: Rot-Weiss Essen, der Verein von Helmut Rahn, Horst Hrubesch und Mesut Özil, musste Insolvenz anmelden, der Abstieg aus der Regionalliga West war besiegelt. In der neuen Saison sind die Essener nur noch fünftklassig, ihre Gegner in der NRW-Liga heißen SV Schermbeck und Westfalia Rhynern.
„Mein Gott“, sagt Carsten Gockel. „RWE ist im Essener Norden eine Religion, und jetzt sind die nur noch ein Amateurverein. Da leidet man wirklich mit.“ Von Amts wegen dürfte er das gar nicht, leiden mit Rot-Weiss Essen. Gockel ist Geschäftsführer bei Preußen Münster, die Fans beider Vereine pflegen eine innige Feindschaft. Aber in diesem Fall geht es ums große Ganze. „Jetzt ist Schluss!“, sagt Gockel, und man merkt auch am Telefon, dass er seine Empörung nicht spielen muss. „Die Regionalliga ist tot, wie sie toter nicht sein kann. Dauerhaft kann darin keiner überleben.“ Essen ist kein Einzelfall. Mit Tennis Borussia Berlin (Insolvenz) und Waldhof Mannheim (Lizenzentzug) sind zwei weitere ehemalige Bundesligisten zwangsabgestiegen, dazu kamen der Bonner SC, Reutlingen und Eintracht Bamberg. In der Regionalliga West gab es in der vorigen Saison keinen einzigen sportlichen Absteiger. „Es ist eine einzige Trauergeschichte“ sagt Gockel.
Die Probleme sind bekannt: Nur der Erste steigt auf, die Anforderungen des Deutschen Fußball-Bundes sind hoch, die Finanzausstattung ist dafür dürftig. 90 000 Euro Fernsehgeld bekommt jeder Klub in dieser Saison, nächstes Jahr gar nichts mehr. Das größte Ärgernis aber sind die vielen zweiten Mannschaften der Profivereine. In der neuen Saison wird ihre Zahl auf 25 steigen – von 54. Allein im Westen sind es zehn. „Das heißt: Zehn Mal im Jahr bin ich in der Situation, dass ich die Gästekasse zulassen kann“, sagt Carsten Gockel von Preußen Münster.
Selbst DFB-Präsident Theo Zwanziger hat inzwischen zugegeben, dass ihn die vierten Ligen derzeit nicht glücklich machen: „Sie haben keine Strahlkraft aus sich heraus.“ Die hellste Leuchte war zuletzt noch Rot-Weiss Essen, Pokalsieger 1953, Meister zwei Jahre später. Gefühlt ist RWE immer noch eine Größe im deutschen Fußball. 21 000 Zuschauer haben in der vorigen Saison das Spiel der Essener gegen den verhassten Erzfeind Schalke 04 gesehen. Es war ein Regionalligaspiel gegen die U 23 der Schalker.
Im Tribünengebäude des Georg-Melches-Stadions hängt eine Marmortafel, die von früherer Erhabenheit kündet: „RWE war wer, RWE ist wer, RWE bleibt wer.“ Was wird, weiß niemand. Wer aber wissen will, was war und was ist, muss an die Hafenstraße kommen. So wie das Stadion mit der ersten Flutlichtanlage in Deutschland einmal für die Größe des Klubs stand, so symbolisiert das, was von ihm übrig geblieben ist, jetzt seinen Niedergang. Die 1994 abgerissene Westtribüne wurde nie wieder aufgebaut. 2009 folgte ein Viertel der Nordkurve und einer der vier Flutlichtmasten. Mitten in Block K enden jetzt die Stufen im Nichts. „Hier sieht’s aus wie auf der Müllkippe“, hat Willi Lippens gesagt. Er war der letzte große Star der Essener. 1976 musste er nach Dortmund verkauft werden, ein Jahr später stieg RWE aus der Bundesliga ab. Es war ein Abschied für immer.
In den unteren Ligen, jenseits der messbaren Aufmerksamkeit, tummelt sich die Vergangenheit des deutschen Fußballs, aus Ost und West gleichermaßen. Lok Leipzig und Uerdingen, Magdeburg und Fortuna Köln, Darmstadt 98 und Wormatia Worms: Wer einmal abgestürzt ist, kommt so schnell nicht wieder zurück.
Im Georg-Melches-Stadion sind die Glanzlichter der Vereinsgeschichte an den Stufen der Haupttribüne verewigt: ein 3:1 gegen die Bayern 1971, die Einweihung des Nou Camp in Barcelona 1957, ein 5:0 gegen den 1. FC Köln. Drei Jahre ist das her, da war RWE noch zweitklassig. Die Tribüne darf nur noch mit Sondergenehmigung genutzt werden. „Die Baufälligkeit ist fast erreicht“, sagt Thomas Aderhold von der Faninitiative „Du bist RWE“, die 24 000 Unterschriften für den Bau eines neuen Stadions gesammelt hat.
Eigentlich müsste das Stadion längst stehen. 2004 hat Essens Stadtrat einen entsprechenden Beschluss gefasst, vor einem Jahr wurde mit großem Brimborium ein Loch in den Boden gegraben – als symbolischer Baubeginn. „Wir waren alle guter Dinge“, sagt Aderhold. Doch inzwischen ist das Projekt wieder gestoppt: Die Stadt Essen ist mit drei Milliarden Euro verschuldet, ohne Zustimmung des Landes darf sie keinen Cent ausgeben. Natürlich ist das Stadion ein Politikum. „Rot-Weiss Essen spaltet die Gemüter in der Stadt“, sagt Aderhold.
Alle Traditionsvereine in Not haben ihre eigenen Probleme, und doch gleichen sie einander auf bestimmte Weise. Ohne die frühere Größe ist ihr Absturz kaum zu verstehen. Das gilt auch für Tennis Borussia, den einst so noblen Klub aus Berlin-Charlottenburg. „Tennis Borussia war immer ein elitärer Verein“, sagt Mario Weinkauf, der bis Juni Vorstandschef war und dann von den Mitgliedern abgesetzt wurde. Dem eigenen Selbstverständnis nach gehört TeBe nicht in die vierte Liga. Und in die fünfte schon mal gar nicht.
Aber wer hoch hinaus will, braucht Geld, und das fehlte TeBe schon vor einem Jahr. Der Verein konnte die Spieler nicht mehr bezahlen, Woche für Woche wurden sie vertröstet. Wir sind in guten Gesprächen, hieß es. Es passierte – nichts. Stattdessen wurde Werner Lorant als ehrenamtlicher Sportdirektor vorgestellt. Er sollte Sponsoren akquirieren, hat seine Kontakte aber wohl ein bisschen überschätzt. Außer Häme hat Lorant TeBe nichts gebracht. Das weiß auch Weinkauf. Aber was hätte er machen sollen? „Wir standen mit dem Rücken zur Wand. Wir hatten keine andere Chance.“
Kurz nach dem Gespräch ruft Weinkauf noch einmal an: „Sie haben doch gefragt, wie frustrierend das vergangene Jahr war. Wissen Sie, was mich frustriert? Das große Gejammer der Leute, die jetzt das Sagen haben. Man kann doch nicht so blauäugig an die Sache herangehen.“
Christian Schwarzkopf, 42 Jahre alt, gehört zu den Leuten, die Weinkauf meint. Er ist jetzt Aufsichtsratsvorsitzender von TeBe, und in der Tat hat er noch vor drei Wochen alles andere als zuversichtlich geklungen. Kein Geld, keine Sponsoren, keinen Vorstandschef und vor allem noch keinen einzigen Spieler, „jeden Tag kommt irgendetwas Neues hinzu“, sagt Schwarzkopf. „Ich hänge sehr am Verein, seitdem mich mein Vater vor 35 Jahren zum ersten Mal mit ins Stadion genommen hat, aber ich bin fast so weit zu sagen: Dann müssen wir eben aufgeben.“
Freitagabend, es regnet, im Mommsenstadion spielt TeBe zum Start der Oberligasaison gegen den Brandenburger SC Süd. Zehn Minuten sind es bis zum Anpfiff, vor den Kassen stehen lange Schlangen. Ein TeBe-Mitarbeiter kommt aus dem Stadion. „Das Spiel fängt eine Viertelstunde später an“, sagt er. „Keine Bange.“ 482 Zuschauer sind gekommen. Aus Neugier, aus Trotz, aus alter Verbundenheit – wer weiß das schon?
Wenn das Geld verprasst ist, bleiben als Kapital nur die Fans. Bei Tennis Borussia haben die Anhänger im vorigen Jahr die Initiative „We save TeBe“ gegründet, bei Rot-Weiss Essen soll in Kürze ein Fanbeirat ins Leben gerufen und in die Vereinsarbeit eingebunden werden. Auf seine Anhänger hat sich RWE immer verlassen können. In zehn Tagen hat der Klub 700 Dauerkarten für die NRW-Liga verkauft.
Auch bei TeBe haben sie es wieder geschafft: Sie haben das nötige Geld für ihren Mini-Etat aufgetrieben, innerhalb von zwei Wochen wurden 15 Spieler unter Vertrag genommen. Die meisten von ihnen haben noch nie auf diesem Niveau gespielt, auch die Gepflogenheiten bei TeBe sind neu für sie. Als die ersten Spieler nach dem Schlusspfiff in die Kabine wollen, versperrt Mannschaftsleiter Frank Lange ihnen den Weg. Erst zu den Fans! Die Anhänger haben gesungen, geschrien und laut gejubelt, als Aboubacar Condé in letzter Minute sein zweites Tor für TeBe erzielt hat. Es ist das 2:5. Selten wurde ein derart unwichtiger Treffer so ekstatisch gefeiert. Die Prioritäten haben sich verschoben. „Ich bin froh, dass wir heute überhaupt gespielt haben“, sagt Christian Schwarzkopf.
Vor einem Jahr hat TeBe mit einem Etat von 1,3 Millionen Euro geplant, jetzt sind es 150 000, weniger geht kaum. Doch der Verein, der so oft über seine Verhältnisse gelebt hat, will jetzt nur noch Geld ausgeben, das er wirklich hat. Viel ist es nicht. Schwarzkopf erlebt es in diesen Tagen immer wieder, dass potenzielle Sponsoren sagen: „,TeBe? Kennen wir, sympathischer Verein, der muss unbedingt gerettet werden – aber ich werf doch kein Geld in ein schwarzes Loch.’ Das ist ein Teufelskreis.“ Was hat der Klub schon zu bieten, außer Tradition und einer rührigen Fanszene? „In der Oberliga stehen Sie null in der Öffentlichkeit. Als Sponsor haben Sie die Aufmerksamkeit von maximal 500 Zuschauern, die ins Stadion kommen.“
Bei Rot-Weiss Essen gab es in der vorigen Saison noch Spieler, die 20 000 Euro verdient haben – im Monat. Vorbei. Der Gärtner, der das Grab des Klubgründers Georg Melches pflegt, hat gerade vom Insolvenzverwalter die Mitteilung erhalten, dass dafür künftig kein Geld mehr vorhanden sei. Es geht um 390 Euro im Jahr. „Mir hat das Herz geblutet“, sagt Thomas Aderhold von der Initiative „Du bist RWE“. Der „Reviersport“ springt jetzt für ein Jahr ein, was danach passiert, ist unklar. „Notfalls sammeln wir bei den Fans“, sagt Aderhold, „das Geld haben wir schnell zusammen.“ Im Frühjahr gab es einen Spendenaufruf zur Rettung des Vereins, innerhalb von 48 Stunden gingen 56 000 Euro ein.
Sogar ein paar Schalker haben Geld für den Rivalen von einst gespendet.
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