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Elena Krawzow kam aus Kasachstan nach Deutschland und lernte erst mit 13 Jahren das Schwimmen.
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Para-Schwimmerin Elena Krawzow: So weit die Flügel tragen

Elena Krawzow mag Wasser eigentlich gar nicht und lernte erst mit 13 Jahren schwimmen. Bei der WM zählt die Para-Schwimmerin nun zu den Favoritinnen.

Diese Geschichte über Elena Krawzow beginnt auf dem Startblock. 100 Meter Brust, die Paradestrecke der Schwimmerin. Auf der Mitte der Distanz eine Wende. Elena Krawzow prüft ein letztes Mal den Sitz ihrer Brille, der Kappe. Als das Signal ertönt, springt sie der ganzen Länge nach ins Wasser und schiebt sich unter der Oberfläche ein weites Stück nach vorne. Nach dem Auftauchen fängt sie mit dem ersten Armzug an zu zählen. Eins.

Elena Krawzow ist seit ihrem siebten Lebensjahr an Makuladystrophie erkrankt, die Mitte der Netzhaut verliert dabei immer mehr an Schärfe. Heute, mit 25 Jahren, wird ihre Sehkraft auf weniger als drei Prozent bemessen. Für Krawzow führte diese Einschränkung schon zu mancher Kollision mit der Beckenkante. Deswegen das Zählen der Züge. Zwei. Drei. Vier. Es gibt ihr vor, wann es an der Zeit ist, sich auf die Wende einzustellen. Auf den ersten 50 Metern Brust sind es 18 Armzüge, auf dem Weg zurück 22 oder 23, je nachdem wie flüssig ihr die Drehung gelingt.

Hätte Elena Krawzow frei entscheiden können, sie wäre im Leben nicht Leistungsschwimmerin geworden. Und das liegt nicht mal an ihrer Erkrankung. „Ich bin noch nie gerne ins Wasser gegangen“, sagt sie an einem Tag im August und meint das ganz ernst: „Ich bin immer froh, wenn ich aus dem Wasser wieder raus kann.“ Es ist, als würde Sebastian Vettel berichten, er sitze nicht gerne im Auto. Oder als könnte Toni Kroos den Rasen nicht leiden. Wie ist es also möglich, dass es Elena Krawzow im Wasser zu Weltrekorden gebracht hat und ab Mittwoch bei den Para-Schwimmweltmeisterschaften in London auf ihren Strecken als die große Favoritin gilt?

„Daran ist eigentlich nur der Michi schuld“, sagt Krawzow. Der Michi, das ist Michael Heuer. Er brachte ihr im Alter von 13 Jahren das Schwimmen bei und gilt als ihr Entdecker. Aber so weit sind wir in dieser Geschichte noch nicht.

Elena muss ins Internat: Es ist die Hölle für das kleine Mädchen

Fünf. Sechs. Sieben. Acht. Geboren wird Elena Krawzow 1993 in Kasachstan, in einem winzigen Dorf an der Grenze zu Kirgisistan. Nach dem Zerfall der Sowjetunion geht es der Familie zunehmend schlechter. Der Vater kommt nach der Arbeit lediglich mit einem Stück Butter heim, Geld hat es wieder keines gegeben. Tage verstreichen, an denen es für Elena und ihre Geschwister nur ein Glas Tee zum Frühstück gibt. Das einst so lebensfrohe Land ihres Vaters schlägt so richtig auf den Magen. Neun. Zehn.

Die Krawzows wollen weg, die Großmutter ist Deutsche, aber das mit den Papieren zieht sich jetzt schon ein paar Jahre hin. Sie fliehen nach Russland, das Land von Elenas Mutter. Nächtelang warten sie am Bahnhof auf den Vater, bis er eine Bleibe gefunden hat. Ein wenig Hoffnung. Elf. Zwölf. Bis Elena in der Schule plötzlich die Augen zusammenkneift und beim Schreiben die Linien nicht mehr trifft. Die Lehrer wenden sich an die Eltern: Ihre Tochter muss ins Internat. Es ist die Hölle für das kleine Mädchen.

Nach drei Jahren der erlösende Anruf aus Deutschland. Die Papiere sind fertig. Mit dem Bus reist die Familie aus Moskau in eine neue Zukunft nach Bamberg. Elena geht in die vierte Klasse einer Grundschule und bekommt die Arbeitsblätter stark vergrößert ausgedruckt. In der fünften Klasse verliert sie mehr und mehr den Anschluss, „meine Noten waren unterirdisch“, erinnert sie sich. Erneut wird sie aus ihrer Familie gerissen und fortgeschickt, dieses Mal bekommt sie ein Zimmer im Bildungszentrum für Sehbehinderte in Nürnberg. Dreizehn. Vierzehn. Fünfzehn. „Für mich war das schrecklich: Ich war neu in Deutschland, konnte die Sprache nicht richtig – aber ich hatte ja keine Wahl.“

Die Qual beginnt von vorn. In Nürnberg bleibt Elena die meiste Zeit für sich. Immer wieder fließen die Tränen, finden die Erzieher sie vor der Eingangstüre, sie warte auf ihren Vater, dass er sie abhole, schluchzt sie dann. Aber ihr Vater kommt nicht. Stattdessen steht da plötzlich dieser freundliche Mann aus dem Freizeitzentrum und lädt sie zum Kartenspielen ein. Elena trumpft beim Uno-Spielen groß auf. Michael Heuer, „der Michi“, wie Elena den Erzieher heute nennt, war beeindruckt: „Die Elena“, wie er sie heute nennt, die hat richtig was auf dem Kasten: „Und fit ist sie auch. Mensch, die holste dir zum Sport“, denkt er sich.

Sportabzeichen mit dem Michi. Der Elena gibt die Bewegung und der Zuspruch Auftrieb. Als letzte Disziplin kommt es zum Schwimmen, und die damals 13-Jährige denkt: „Ich kann doch gar nicht schwimmen.“ Sie soll es trotzdem versuchen. Auf der internatseigenen 16-Meter-Bahn paddelt sie dreimal hin und her. Sie sagt heute: „Wie ein Hund“. Heuer meint: „So schlimm war das gar nicht“. Er macht ihr das Angebot, ihr Schwimmunterricht zu geben. Elena sagt zu.

Sechzehn. Siebzehn. Achtzehn. In dieser Geschichte über Elena Krawzow ist es nun an der Zeit für die Wende. Kopf nach unten, mit gestreckten Armen und Beinen schlägt sie an, zieht die Knie unter den Bauch und dreht sich mit einem Schwung über die linke Seite und stößt sich zurück auf die Bahn. Eins. Zwei. Drei.

Mit den ersten Wettbewerben folgen auch die ersten Erfolge

„Ich könnte ein ganzes Buch schreiben“, sagt Michael Heuer über die gemeinsame Zeit. „Das sind Beziehungen zwischen Menschen, die hat man nur einmal im Leben. Ich spreche einerseits von Glück – und andererseits von Verpflichtung.“ Was damals in Nürnberg entsteht, ist der Beginn einer beeindruckenden Sportlerkarriere. Vier. Fünf. Sechs. Sieben. Zusammen mit der Tochter des Hausmeisters bringt Heuer der Elena in dem 16-Meter-Becken die verschiedenen Schwimmstile bei. Nach drei Jahren fährt er sie zum Schwimmverein nach Altenfurt. Elenas späterer Trainer Günter Zirkelbach will nach der ersten Stunde ihr Längenverhältnis sehen, sie soll die Arme ausbreiten. „Boah, hat die Flügel“, soll er gestaunt haben. Acht. Neun. Zehn. Elf. Zwölf.

Elena Krawzow nimmt an ihren ersten Wettbewerben teil und erreicht als Schnellste ihrer Startklasse bald verlässlich die Medaillenränge. Von den fränkischen Meisterschaften geht es zu den deutschen Meisterschaften. Kirsten Bruhn flüstert ihr bei einer Siegerehrung zu, aus ihr könne mal was werden. Dieser Zuspruch der Para-Schwimm-Legende lässt Krawzow plötzlich an etwas glauben. Dreizehn. Vierzehn. Fünfzehn. Sechzehn. Sie erlebt die Athleten der deutschen Mannschaft in ihren Trainingsanzügen und will auch dazugehören. „Ich glaube, nur aus diesem Grund wollte ich das so richtig machen, dass ich dadurch um die Welt komme, ich saß ja bis dahin noch nie in einem Flugzeug“, sagt Krawzow heute. Siebzehn. Achtzehn. Neunzehn. Zwanzig.

Nach einigen WM-Titeln als Juniorin feiert sie ihren bisher größten Erfolg 2012 in London: Vor den Augen von Michael Heuer schwimmt sie bei den Paralympics völlig überraschend zu Silber. Und das soll erst der Anfang gewesen sein. In den kommenden vier Jahren – parallel zu ihrer Ausbildung zur Physiotherapeutin – trainiert sie voll auf Gold.

Siegerlächeln. Elena Krawzow holte bei den Weltmeisterschaften 2019 die Goldmedaille über 100 Meter Brust.
Siegerlächeln. Elena Krawzow holte bei den Weltmeisterschaften 2019 die Goldmedaille über 100 Meter Brust.
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Ein Jahr vor den Paralympics in Rio de Janeiro 2016 zieht sie von Nürnberg nach Berlin und schwimmt seitdem am Olympiastützpunkt für das Berliner Schwimmteam. Kurz vor den Spielen knackt sie zum ersten Mal den Weltrekord. Ihr Umfeld rechnet nun fest mit der Krönung. Sie selbst auch. Einundzwanzig. Zweiundzwanzig. Dreiundzwanzig. Lassen wir Elena Krawzow in dieser Geschichte die 100 Meter Brust also in Brasilien beenden. Am Zuckerhut geht mit dem Finish auf dramatische Weise ein Lebensabschnitt zu Ende: Die große Favoritin aus Deutschland schlägt lediglich als Fünfte an. Härter kann es die bis dahin erfolgsverwöhnte Schwimmerin nicht treffen.

Die Enttäuschung von Rio zieht sie runter

Elena Krawzow, damals 22 Jahre jung, schämt sich für die Enttäuschung in ihrem Umfeld. „Ich habe ziemlich lange gebraucht, um aus diesem Loch wieder rauszukommen. Es war eine schwierige Zeit, vor allem, wenn man nie richtig gelernt hat, wie das ist, zu verlieren“, sagt sie heute. Im Training geht erst einmal gar nichts mehr. Die Enttäuschung zieht sie buchstäblich runter, sie kommt im Wasser kaum von der Stelle. Es braucht beinahe zwei Saisons, ehe sie wieder an Leichtigkeit gewinnt.

„Ich habe irgendwann zu mir gesagt: Also, du kannst jetzt einfach aufhören. Oder du startest noch mal voll durch“, erzählt sie: „Und diese letzte Chance, die ich jetzt vielleicht noch einmal habe, die wollte ich einfach dafür nutzen, um mir selbst zu beweisen, dass ich es kann – und dass ich es eigentlich schon immer wollte.“ Pause. „Für mich, und nicht weil mir das irgendjemand gesagt hat. Einfach nur für mich.“

Vielleicht kam diese Niederlage von Rio genau richtig. So etwas sagt man dann eben drei Jahre später. Im Falle von Elena Krawzow scheint es heute aber zu stimmen. Es wirkt rückblickend wie ein Ende. Das Ende einer Zeit der gefühlten Fremdbestimmung über den eigenen Körper und das eigene Leben. Elena, die das Wasser nicht mag und so leicht friert. Elena, die sich an vielen Morgen doch einfach nur wünschte, ein ganz normales Mädchen sein zu können. Es wirkt rückblickend aber vor allem auch wie ein neuer Start. „Ich habe mir früher so viele Dinge verboten und mich selbst eigentlich immer total bestraft, wenn ich was falsch gemacht habe“, sagt sie heute. „Aber ab jetzt mache ich das im Reinen mit mir. Und ich muss sagen, seitdem ich das mehr genießen kann, läuft alles viel, viel besser als früher.“

Zu dieser Freiheit gehört es heute auch, zwischen den Weltrekorden, die sie zurzeit in Serie aufstellt, mal so richtig durchzudrehen. „Und den Kopf freibekommen, heißt für mich: ab in den Technoclub.“ In solch einer Nacht ist es schon passiert, dass sie ihre Freunde verliert und allein zurückbleibt. Elena Krawzow schließt dann die Augen und taucht ab in der tanzenden Menge.

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