WM 2014 - Hollands Ex-Nationalspieler De Boer im Interview: „So antiquiert, dass es modern ist“
Der frühere Nationalspieler Ronald de Boer über Hollands Titelchancen, die Taktik von Bondscoach Louis van Gaal - und die alte Schwäche im Elfmeterschießen.
Ronald de Boer... Oder sollen wir lieber Ronaldus sagen? Schließlich ist das ihr richtiger Name.
(Lacht) Wo haben Sie den denn ausgebuddelt? Aber Sie haben Recht, mein richtiger Name ist Ronaldus. Nur nennt mich so niemand. Genau wie bei meinem Bruder. Der heißt Franciscus, aber alle sagen Frank. Ronaldus und Franciscus sind christliche Namen.
Glauben Sie an Gott?
Nein, ich glaube an mich selbst.
Der Glaube an die eigene Stärke scheint auch bei der niederländischen Nationalmannschaft sehr ausgeprägt. Gegen Mexiko hat sie ein 0:1 in der Schlussphase noch in einen 2:1-Sieg verwandelt. Jetzt wartet im Viertelfinale das Überraschungsteam Costa Rica. Steht Holland schon so gut wie im Halbfinale?
Das nicht, aber es ist für uns besser, dass wir gegen Costa Rica und nicht gegen Griechenland antreten müssen. Costa Rica wird versuchen, mitzuspielen. Sie haben die Leute dazu. Etwa Bryan Ruiz, der zuletzt in Holland beim PSV Eindhoven spielte. Griechenland hätte vor dem eigenen Strafraum eine Mauer hochgezogen und uns wäre wahrscheinlich nichts eingefallen.
Klingt, als wären Sie nicht sonderlich begeistert von den bisherigen Auftritten der Mannschaft?
Wenn wir den Ball haben, sieht es oft armselig aus. Das ist viel zu statisch, da ist nicht genug Bewegung drin. So wie gegen Mexiko in der ersten Halbzeit. Das ist nicht der totale Fußball, wie ihn die Welt von den Holländern kennt und erwartet. Aber es ist bisher erfolgreich. Und das zählt.
Nicht gerade sehr holländisch...
Wie gesagt, die Leute erwarten was anderes, wenn sie an die Elftal denken. Aber natürlich wollen auch sie am Ende gewinnen.
Trainer Louis van Gaal hat vor der WM das in Holland zum Kulturgut erhobene 4-3-3-System gegen ein 5-3-2 ausgetauscht und dafür viel Kritik bekommen. Zu Recht?
Van Gaal ist Realist, er hat früh erkannt, dass mit der jetzigen Mannschaft kein ständiges 4-3-3 möglich ist. Das ging los, als sich Kevin Strootman im Frühjahr verletzte. Er war bis dahin unser bester Spieler und im Mittelfeld nicht zu ersetzen. Wir müssen uns inzwischen stärker am Gegner orientieren als früher. Gegen Costa Rica könnte van Gaal 4-3-3 spielen. Im Halbfinale eher nicht.
Warum nicht?
Weil der Gegner dort wahrscheinlich noch mehr Offensivpower besitzt. Vor dem Turnier galten unsere Verteidiger als Schwachpunkt. Ihnen fehlte die Erfahrung, außerdem spielen sie bei keinem europäischen Spitzenklub. Van Gaal hat ihnen noch zwei weitere Spieler als Hilfe zur Seite gestellt. Die Mannschaft ist jetzt viel weniger anfällig. Alle Verteidiger spielen ein gutes Turnier. Das 5-3-2 hat viele Vorteile.
Welche noch?
Die meisten Mannschaften wissen gar nicht, wie sie sich verhalten sollen, wenn der Gegner so spielt. Ich will Ihnen was erzählen. Ich habe vor der WM an einem Turnier teilgenommen. So ein Ehemaligen-Turnier. Alles gestandene Fußballer. Meine Mannschaft hat dort 5-3-2 gespielt, da waren die anderen auf einmal verwirrt. Wie teile ich mich auf? Welche Räume gilt es zu besetzen? Viele Spieler sind an andere Systeme gewöhnt. 5-3-2 ist eigentlich so antiquiert, dass es schon wieder modern ist.
Louis van Gaal wird das gern hören.
Er ist ein großer Taktiker, da macht ihm niemand was vor. Aber das weiß er auch allein, das muss er nicht von mir hören.
"Van Gaal schafft klare Verhältnisse"
Sie haben einen großen Teil Ihrer Karriere unter van Gaal gespielt, waren zusammen bei Ajax Amsterdam und in Barcelona. Was zeichnet ihn neben seiner Fachkompetenz noch aus?
Er kann eine Gruppe führen. Schauen Sie sich die Mannschaft doch nur mal an. Schauen Sie, wie die Stars Arjen Robben, Wesley Sneijder und Robin van Persie für das Team arbeiten. Sneijder war gegen Mexiko völlig fertig, der wäre fast umgefallen. Das machen er und die anderen wegen van Gaal.
Weil sie Angst vor ihm haben?
Nein, wieso sollten sie?
Van Gaal gilt als aufbrausend. Nach seiner Entlassung beim FC Bayern warf der damalige Präsident Uli Hoeneß dem Trainer van Gaal einen „diktatorischen Stil“ vor. Außerdem sei er „beratungsresistent“. Stimmt das?
Blödsinn. Van Gaal spricht sehr viel mit den Spielern. Er kann auch gut zuhören. Das war ein Grundsatz, den wir bei Ajax gelernt haben: „Sag deine Meinung. Friss nichts in dich rein. Sprich mit deinen Mitspielern.“ Und natürlich mit dem Trainer. Eines stimmt allerdings: Am Ende entscheidet er allein. Egal was die Spieler sagen.
Bei der EM vor zwei Jahren war der Teamgeist noch, sagen wir, bescheiden. Ist die neue Atmosphäre auch van Gaals Verdienst?
Ja, weil er klare Verhältnisse schafft. Er ist sehr direkt. Etwa so: „Du spielst nicht, weil du schlecht warst.“ Niemand kann überrascht sein, wenn er nicht im Team ist und dann beleidigt sein. Die Spieler bei van Gaal wissen immer schon vorher, was Sache ist.
Van Gaal gilt es Förderer der Jugend. Auch für Brasilien hat er einen weitgehend unbekannten Kader zusammengestellt. Kann er mit so genannten Stars nicht umgehen?
Auch hier muss man differenzieren. Es gibt bei ihm eine einfache Regel: Du musst nur tun, was er von dir verlangt. Dann bist du sein bester Spieler und hast keine Probleme.
In Deutschland trauen viele der holländischen Mannschaft zumindest den erneuten Einzug ins Finale zu. Ist die Zeit nach drei verlorenen Endspielen reif für den Weltmeister Holland?
Ich würde mich freuen, aber so einfach ist das nicht. Du brauchst auch viel Glück, um eine WM zu gewinnen.
Glück, das Ihrer Generation fehlte? Die Mannschaft von 1998 gilt vielen Holländern als die beste der vergangenen 20 Jahre.
Wir hatten ein fantastisches Team. Frank war dabei, die Angreifer Patrick Kluivert und Marc Overmars, Edwin van der Saar stand im Tor, davor Jaap Stam. Dennis Bergkamp hätte ich beinahe vergessen. Was war das für ein Tor von ihm gegen Argentinien! Der Wahnsinn! Sie haben Recht, wir hätten Weltmeister werden müssen. Doch uns kam das blöde Elfmeterschießen gegen Brasilien dazwischen….
… wo Sie im Halbfinale einen Elfmeter verschossen.
Das war definitiv ein schwarzer Moment meiner Karriere. Elfmeter waren in dieser Zeit nicht gerade unsere Spezialität. Bei der EM zwei Jahre später sind wir gegen Italien raus, weil wir vier oder fünf Elfmeter verschossen haben. Zwei davon aus dem Spiel heraus. Italien war nur noch zu neunt. Zu neunt! Unglaublich!
Wie lange haben Sie gebraucht, um darüber hinweg zu kommen?
So eine WM oder EM kann dir schon den Urlaub versauen. Wenn du sie nicht gewinnst.