Schlechter Fußball in der Bundesliga: Sie wollen nicht spielen
Von wegen Weltmeisterliga! So ergebnisorientiert wie im Moment war die Fußball-Bundesliga lange nicht – sehr zu Lasten der spielerischen Klasse.
Das zweite Mai-Wochenende des Jahres 1984 war ein historisches für die Fußball-Bundesliga. Dabei hatte dieses Wochenende am Freitagabend ganz gewöhnlich angefangen. Im Spiel zwischen Kickers Offenbach und Werder Bremen stand es zur Halbzeit 1:2. Am Ende aber feierten die Gäste aus Bremen einen 7:3-Erfolg.
Und in diesem Stil sollte es am Samstag weitergehen: Borussia Mönchengladbach setzte sich gegen Bayer Uerdingen nach 2:1 zur Pause noch mit 7:1 durch, der 1. FC Köln machte aus einem 0:2 gegen Borussia Dortmund noch ein 5:2. Dazu siegte der HSV 6:1 in Nürnberg und der FC Bayern 5:2 gegen Kaiserslautern. Am Ende waren an diesem 32. Spieltag der Saison 1983/84 53 Tore gefallen – so viele wie nie zuvor und nie mehr danach an einem einzigen Spieltag.
Von solchen Zahlen wagt die Bundesliga inzwischen nicht mal mehr zu träumen. Am vergangenen Wochenende waren es 29 Tore in neun Spielen – was fast schon Züge von Anarchie hatte. Das leidgeprüfte Fußballpublikum ist in dieser Saison ganz andere Zahlen gewohnt.
Zahlen wie am 25. Spieltag Anfang März, als in den fünf Begegnungen der Sky-Konferenz am Samstagnachmittag bis zur Pause exakt vier Tore zu sehen waren. Eine Woche zuvor war es sogar noch schlimmer gewesen: In den vier Spielen des Samstagnachmittags fiel in der ersten Hälfte ein einziges Tor – und bis zum Ende des Spieltags wurden es gerade mal 14. Keine der 18 Mannschaften traf mehr als zweimal. Im Schnitt sind in dieser Saison 2,72 Tore pro Spiel gefallen. Bliebe es bis zum Schluss dabei, wäre das der fünftschlechteste Wert in 55 Jahren Bundesliga.
"Als Konsument schalte ich bei vielen Spielen weg", sagt Armin Veh
Das passt zum allgemeinen Bild, das derzeit von der Bundesliga gezeichnet wird. Von wegen Weltmeisterliga! Inzwischen gehört es zum guten Ton, ins Wehklagen über die Qualität des deutschen Fußballs einzustimmen. Und das hängt nicht nur mit dem dürftigen Abschneiden der Bundesligaklubs im Europapokal zusammen; es liegt noch viel mehr an den spielerischen Darbietungen. Armin Veh, Geschäftsführer Sport beim 1. FC Köln, hat in einem Interview mit der „Bild am Sonntag“ gesagt: „Ich sehe die Spiele ja nicht bloß als Manager, sondern auch als Konsument. Da schalte ich inzwischen bei vielen Spielen weg." Und Max Eberl, der Sportdirektor von Borussia Mönchengladbach, findet „die Qualität der gesamten Liga nicht wirklich prickelnd“.
Fußball ist ein Ergebnissport – aber so ergebnisorientiert wie im Moment ist die Bundesliga seit Ende der Achtziger nicht mehr gewesen, vielleicht sogar noch nie. Es gehe eben furchtbar eng zu in der Liga, heißt es dann, jeder könne jeden schlagen. Aber vielleicht geht es auch deshalb so eng zu und kann auch deshalb jeder jeden schlagen (bis auf die Bayern natürlich), weil fast alle gleich spielen. Die Bundesliga ist mehr und mehr zu einer Gegen-den-Ball-Liga geworden.
Die meisten Vereine legen mehr Wert darauf, was sie tun, wenn der Gegner den Ball hat, als darauf, was sie selbst mit dem Ball anstellen. Gegen den Ball – das hat im aktuellen Rahmen aber auch noch eine zweite Bedeutung. In der Bundesliga hat man manchmal den Eindruck, dass der Ball zum Feind geworden ist, mit dem man nichts zu tun haben will. Gegen den Ball wirkt so wie eine Pervertierung des Spiels.
„Viele Mannschaften suchen die Räume nicht, um Fußball zu spielen, und werden sie dann auch nie finden“, sagt Christoph Kramer. Die Realität in der Liga beschreibt der Mittelfeldspieler von Borussia Mönchengladbach so: „Viel auf den zweiten Ball, viele Pressschläge, aber mit wenig Mut, mit wenig Risiko.“
Zwei Matchpläne, zwei Stile - für Heim- und Auswärtsspiele
Nun haben auch Kramers Gladbacher – aus unterschiedlichen Gründen – keine besonders gute Saison gespielt, aber sie zählen zumindest zu den Teams, die explizit den Ansatz verfolgen, Fußball zu spielen. „Ich finde, dass wir bei Borussia einen abwägenden Ball spielen, einen Ball, der aber auch risikoreich ist“, sagt Kramer. Davon gibt es in der Bundesliga wenige. Die Bayern natürlich, Gladbach, Leverkusen wieder mehr als noch zu Zeiten des Gegen-den-Ball-Fanatikers Roger Schmidt, die TSG Hoffenheim und in Ansätzen auch Hertha BSC.
Trainer Pal Dardai will, dass der Ball sauber von hinten herausgespielt wird, dass Torchancen strukturiert vorbereitet werden und nicht aus Zufall entstehen. Aber auch der Ungar hat schon ein bisschen vor der Realität kapituliert und das Spiel seiner Mannschaft an die neuen Begebenheiten angepasst, zumindest in fremden Stadien. „Das sind zwei verschiedene Stile, zwei verschiedene Matchpläne“, hat Dardai seine neue Strategie für Auswärtsspiele erklärt. „Wir wollen nicht spielen. Wir wollen gut stehen und kontern.“
Umschaltspiel und Konterfußball erfreuen sich in der Bundesliga riesiger Beliebtheit, weil dafür am wenigsten fußballerische Klasse nötig ist. Fußballerische Klasse, von der die Liga mit Aubameyang, Dembélé, Mchitarjan, Gündogan, Xhaka, De Bruyne, Sané und Draxler in jüngerer Vergangenheit jede Menge verloren hat. Die eigene Abwehr dicht zu bekommen ist einfacher, als die Abwehr des Gegners auszuspielen. Die meisten Mannschaften nutzen dazu eine Fünferkette, die oft noch als Dreierkette verkauft wird. De facto aber wird nicht ein Mann weniger für die Verteidigung benötigt, sondern einer mehr – was im Umkehrschluss bedeutet: Für das Spiel nach vorne fehlt ein Spieler.
Rainer Widmayer, der Assistent von Herthas Cheftrainer Dardai, hat mal von seinen Erfahrungen in der Schweiz berichtet, als er Co-Trainer von Krassimir Balakow beim FC St. Gallen war. Vor genau zehn Jahren spielte die Mannschaft in der Relegation gegen den Zweitligisten AC Bellinzona um den Verbleib in der Super League. Bellinzona wurde damals vom heutigen Schweizer Nationaltrainer Vladimir Petkovic betreut – und spielte gegen St. Gallen überraschenderweise mit einer Fünferkette. Der Außenseiter gewann 3:2 zu Hause und 2:0 in St. Gallen und stieg in die Erste Liga auf.
Mit Jürgen Klopp fing alles an
Wenn man versucht zu ergründen, wann das alles angefangen hat, wird man vielleicht im Sommer 2004 in Mainz landen, in einer Gaststätte namens Haasekessel direkt neben dem Bruchwegstadion. Es ist in jener Zeit die inoffizielle Geschäftsstelle des FSV Mainz 05, der gerade, gegen jede Wahrscheinlichkeit, zum ersten Mal in die Bundesliga aufgestiegen ist. Die Einrichtung: Eiche rustikal. An den Wänden Wimpel und Autogrammkarten, auf den Tischen Spitzendecken und auf der Theke zur Mittagszeit schon das erste frisch gezapfte Bier.
In einer ruhigen, leicht schummrigen Ecke sitzt Jürgen Klopp, ein vormals mittelmäßiger Zweitligaverteidiger, der mit gerade 37 und noch ohne Lizenz jetzt den frischen Bundesligisten trainieren darf. Auf die Frage, ob er eine Idee vom perfekten Fußball habe, antwortet er: „Wenn eine Mannschaft mit der Qualität von Real Madrid nicht nur marschiert, wenn sie selbst den Ball hat, sondern auch dann, wenn der Gegner in Ballbesitz ist.“
Klopp hat diesen Fußball dann mit seinen Mainzern spielen lassen, nur ohne die Qualität der damaligen Galaktischen von Real. Und er hat diesen Fußball später auch bei Borussia Dortmund spielen lassen – mit einer Qualität, die der von Real Madrid mit jedem Jahr ein Stückchen näher kam. „Gegenpressing ist der beste Spielmacher“, hat Klopp einmal gesagt. Der BVB wollte manchmal gar nicht den Ball haben. Mats Hummels hat in einem schwachen Moment sogar verraten, dass die Dortmunder den Ball bei Einwürfen bewusst zum Gegner werfen – um diesen Moment dann zum Gegenpressing zu nutzen.
Schalke – genau der Zweite, den die Bundesliga verdient?
Gegen-den-Ball-Fußball ist einmal Außenseiterfußball gewesen. Der Versuch, spielerisch überlegenen Gegnern mit einem besseren Plan beizukommen. Das Problem ist: In der Bundesliga wird er längst von Mannschaften gespielt, die gar keine Außenseiter sind. Vom FC Schalke 04 zum Beispiel, der die Saison vermutlich als Meister hinter den Bayern abschließen wird. Zyniker behaupten, mit Schalke bekomme die Bundesliga genau den Zweiten, den sie verdient habe. Unter Domenico Tedesco, einem der jungdynamischen Tüftler auf der Trainerbank, ist die Mannschaft erfolgreich wie lange nicht – allerdings unter Verzicht auf fast sämtliche ästhetischen Elemente in ihrem Spiel. Wie kaum jemand in der Bundesliga richtet Schalkes Trainer seine Mannschaft am jeweiligen Gegner aus. Für jede Begegnung gibt es einen speziellen Matchplan.
Als Schalke Anfang März auf Hertha BSC traf, erzählte Tedesco, die Vorbereitung auf das Spiel hätte gezeigt, dass die Berliner immer dann gewonnen hätten, wenn sie weniger Ballbesitz gehabt hätten als ihr Gegner. Daher sei es in diesem Spiel das Ziel gewesen, selbst möglichst wenig Ballbesitz zu haben. Als Tabellendritter! Gegen den Elften! Im eigenen Stadion! Schalke gewann 1:0 und verbesserte sich auf den zweiten Tabellenplatz.