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Auch Sebastian Vettel hat noch mit der Reform der Formel 1 zu kämpfen. Selbst Profis könnten den Ausgang des Rennens kaum noch abschätzen, sagt er.
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Formel 1 in der Sinnkrise: Sicher, leise, langweilig

Die Formel 1 will zeitgemäß werden. Grüner, effizienter, nachhaltiger. Selbst Sebastian Vettel kämpft noch mit dem neuen Reglement. Mittelfristig könnte die Formel E der alten Rennserie in der Gunst der Zuschauer sogar den Rang ablaufen.

Die Formel 1, das war mal Gestank, Gefahr und unbeschreiblicher Lärm. Wer sich ohne Ohrenstöpsel in die Boxengasse wagte, bereute seinen Leichtsinn spätestens beim ersten vorbeifahrenden Auto. Es war, als würde eine Kreissäge auf dem Amboss tanzen. Während eines Formel-1-Rennens im Jahr 2014 kann man in der Boxengasse telefonieren.

Die leiseren Motoren sind nur der markanteste Bote eines neuen Zeitalters in der Spitzenklasse des Automobilrennsports. Zur neuen Saison erlebt die Formel 1 den wohl heftigsten Umbruch ihrer Geschichte. Neben den neuen Motoren gibt es ein neues Punktesystem, eine neue Spritregelung, neue Nummern und Strafpunkte für die Piloten.

Reformen der Formel 1 sind Ausdruck der Verunsicherung

Die Revolution in der Formel 1 ist ein Ausdruck der tiefen Verunsicherung, die die Rennserie nach Jahrzehnten der Prosperität ergriffen hat. „Die Formel 1 muss als gesellschaftlich relevant betrachtet werden“, hat der frühere McLaren-Teamchef Martin Whitmarsh schon vor zwei Jahren gesagt. In den Siebzigern und Achtzigern war es vielleicht noch akzeptiert, stinkende Spritschleudern zu fahren, das war Teil der Attitüde. „Jetzt aber müssen wir zeigen, dass die Formel 1 eine effiziente Organisation ist, die verantwortungsvoll mit Ressourcen umgeht.“

Die Formel 1 polarisiert seit ihrer Gründung 1950. Mit lauten, gefährlichen Autorennen wird man niemals alle glücklich machen können. Genau das aber versucht die Serie derzeit. Sie hat sich verfahren bei der existenziellen Kernfrage: Welches Publikum will man überhaupt ansprechen? Soll man konsequent auf die volle Dröhnung setzen? Oder lieber dem Weg von Effizienz und Nachhaltigkeit folgen? Links oder rechts? Die Formel 1 will geradeaus. Und droht, mitten in der Mauer zu landen.

Neues Reglement soll junge Fans gewinnen

Einerseits will man neue, junge Fangruppen gewinnen. Das hat auf den ersten Blick durchaus Sinn. Seit 2009 lebt erstmals mehr als die Hälfte der Menschheit in Städten. Die Kohorte der urbanen Hipster ist zu einer der wichtigsten Zielgruppen aufgestiegen. Auf sie zielt das neue Reglement, das die großen Auto- und Motorenhersteller wie Mercedes oder Renault, aber auch die Verantwortlichen des Automobil-Weltverbands Fia für eine gute Idee halten.

Grüner soll sie also werden, die einstige Speerspitze des ungezügelten Fortschritts, die rollende Schaubühne des Industriezeitalterwahnsinns. Soll beweisen, dass sie durchaus in der Lage ist, sich dem Zeitgeist anzupassen, umweltfreundlich zu werden und sogar neue Entwicklungen zu forcieren, die dann auch in der Serienproduktion zum Einsatz kommen könnten. Das Herzstück der neuen Formel 1 sind die komplizierten Hybridbauwerke aus V6-Turboantrieben und einem Energierückgewinnungssystem, genannt ERS (Energy Recovery System). Diese Motoren sollen zwar weiter insgesamt 750 PS leisten, aber 30 Prozent weniger Kraftstoff verbrauchen.

"Wir brauchen den alten Sound zurück"

Unglücklicherweise vernachlässigt man bei dieser Neuausrichtung die Vorlieben der alten Kundschaft, die es handfest, bierselig und laut mag. Ein Effekt dieser neuen Effizienz ist nämlich, dass die Wagen leiser geworden sind. Die neuen Autos brummen nun wie ein Vibrationsalarm. Seit den ersten Testfahrten wird in den Fanforen über den neuen Sound gestritten, in Melbourne im Fahrerlager auch unter den Experten. Sauber-Teamchefin Monisha Kaltenborn stellt die Frage, wie das alles wohl bei den Fans ankomme. Force-India-Teamchef Vijay Mallya forderte vor laufenden Kameras: „Wir brauchen unseren alten Sound zurück!“ Mercedes-Sportchef Toto Wolff macht dagegen klar, dass solche Forderungen nur von Nostalgikern kommen könnten. An der Hitzigkeit der Debatte lässt sich erkennen, wie tief gespalten die Szene hinsichtlich der Neuorientierung ist.

Überholt wird jetzt auf Knopfdruck

Auch Sebastian Vettel hat noch mit der Reform der Formel 1 zu kämpfen. Selbst Profis könnten den Ausgang des Rennens kaum noch abschätzen, sagt er.
Auch Sebastian Vettel hat noch mit der Reform der Formel 1 zu kämpfen. Selbst Profis könnten den Ausgang des Rennens kaum noch abschätzen, sagt er.
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Auch das Thema Spritsparen ist heftig umstritten. Künftig darf ein Auto statt 150 nur noch 100 Kilogramm Treibstoff pro Rennen verbrauchen. Für viele Fans gehört das eher in den Langstreckensport, nach Le Mans, nicht aber in die Formel 1. „Es spricht nichts gegen Benzinsparen an sich“, sagt der frühere Formel-1-Weltmeister Jacques Villeneuve. „Das Problem ist, dass es die Fahrer nicht selbst tun müssen. Die Elektronik nimmt es ihnen ab. Du sitzt einfach da und die Elektronik spart Sprit für dich. Das geht am Sinn der Maßnahme vorbei.“ Ein weiteres künstliches Element also – und damit konnte sich der Kanadier als Vertreter der Formel-1-Traditionalisten noch nie anfreunden. Auch das DRS-System, das das Überholen per absenkbarem Heckflügel erleichtert, lehnt er ab. „Überholt wird doch nur noch, weil man einen Knopf drückt und nicht, weil man ein tolles Manöver gesetzt hat.“ Das sei alles nur für die jüngeren Fans gemacht, „die eine kürzere Aufmerksamkeitsspanne haben und alle paar Sekunden ein Überholmanöver sehen wollen“.

Formel 1 hat 25 Prozent ihrer Zuschauer verloren

Der Veränderungsdruck ist spürbar. In nicht einmal einem Jahrzehnt hat die Formel 1 trotz des ausgeweiteten Rennkalenders fast 25 Prozent ihrer Fernsehzuschauer verloren. In der vergangenen Saison wollten weltweit 450 Millionen Fernsehzuschauer die Rennen mitverfolgen, 2006 waren es noch 580 Millionen. Mit dem Interesse der Zuschauer sinkt auch das der Sponsoren. Mittlerweile stehen eigentlich nur noch Red Bull, Ferrari, Mercedes und McLaren auf halbwegs stabilen Fundamenten, der Rest der Teams kämpft immer verzweifelter gegen die Insolvenz.

Wer einen plakativen Grund für den Zuschauerschwund sehen will, sollte sich die Autos anschauen. Durch neue Bestimmungen haben sie seit 2013 tiefere Nasen. Das mag weniger gefährlich sein, dafür sehen manche nun auch aus wie der Kombi hinterm Gartenzaun. Sicher, leise, langweilig: Plötzlich holt den Besucher die Vorortidylle ein, vor der er doch eigentlich für ein Wochenende flüchten wollte.

Sebastian Vettel: Kaum zu überblicken wie sich Rennen entwickelt

Die Formel 1, das war mal: reinsetzen und Gas geben. Natürlich ging es dabei auch immer um Taktik, Sprit und Reifen, aber die Faszination des Kampfs Mann gegen Mann entfaltete sich auch ohne dieses Hintergrundwissen. Die neue Formel 1 ist Knöpfchendrücken und Ressourcensparen. Das Fahren an den physikalischen Grenzen, in den letzten Jahren schon durch absichtlich stark abbauende Reifen eingeschränkt, scheint jetzt zumindest über eine komplette Renndistanz in immer weitere Ferne zu rücken. Am Ende wird aus einfachem Rennfahren komplizierte Haushaltspolitik im Cockpit.

So ist es selbst für Experten kaum noch zu überblicken, wie sich ein Rennen entwickelt. „Das geht ja uns schon so“, hat der viermalige Weltmeister Sebastian Vettel bei den Testfahrten gesagt. Auch der frühere Formel-1-Pilot Christian Klien gibt zu, nicht mehr richtig durchzublicken. „Für den Zuschauer ist es viel zu kompliziert“, sagt der Österreicher. „Ich glaube, Motorsport sollte man simpel halten.“ Einfache Dinge komplizierter zu machen: Ist das wirklich ein Beweis für zukunftsweisende Hochtechnologie? Getriebewechsel, die statt einer jetzt drei Stunden dauern, ein Motorwechsel gleich mal einen halben Tag? Systeme, die dafür sorgen, dass ein nicht funktionierender Sensor den ganzen Samstag über die Software an Vettels Auto verrückt spielen lässt, ihn auf Startplatz zwölf verbannt und Renault bis zum Samstagabend braucht, um den Fehler endlich zu finden?

Formel 1 im Dunstkreis der Smartphone-Ökos

Diese Ambivalenz umgibt die ganze moderne Formel 1. Denn auch im angepeilten Dunstkreis der Smartphone-Ökos wird es die Formel 1 schwer haben. Villeneuve glaubt jedenfalls nicht, dass man mit einer angeblich ökologischeren Formel 1 umweltinteressierte Gruppen erreichen kann, weil die einfach per se motorsport-kritisch seien. „Sie wollen die Grünen für sich gewinnen, aber die Formel 1 ist nun mal nicht grün“, sagt er, „es ergibt keinen Sinn, so etwas überhaupt zu probieren. Das sorgt vielleicht für ein gutes Image bei den Regierungen, aber es hat nichts mit Formel 1 zu tun.“

Selbst Ecclestone redet Rennserie schlecht

Auch Sebastian Vettel hat noch mit der Reform der Formel 1 zu kämpfen. Selbst Profis könnten den Ausgang des Rennens kaum noch abschätzen, sagt er.
Auch Sebastian Vettel hat noch mit der Reform der Formel 1 zu kämpfen. Selbst Profis könnten den Ausgang des Rennens kaum noch abschätzen, sagt er.
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Firmen, die sich so sehr in sich selbst verheddert und dadurch von ihrem Markenkern entfernt haben, brauchen normalerweise einen Unternehmensberater. Die Formel 1 hat weiter Bernie Ecclestone. Und der ist ein weiteres Hindernis für den angestrebten Erfolg in aufgeklärteren Bevölkerungsschichten. Der gerissene Gebrauchtwagenhändler untergräbt nicht nur durch seinen Schmiergeldprozess die Glaubwürdigkeit der Formel 1. Vor kurzem hat er die neuen Autos als „Farce“ bezeichnet. „Die Leute wollen Lärm, etwas Besonderes“, hat er gesagt. „Das hat die Formel 1 ausgemacht.“ Wer interessiert sich für ein Produkt, das der Verkäufer selbst schlechtredet?

Rennserie nicht im Internet angekommen

Ecclestone hat alles versucht, die Ökoformel zu verhindern. Das ist ihm nicht gelungen, doch in seiner Politik lebt die alte Mentalität der Verschwendung weiter. Weiterhin lässt er auf dem ganzen Erdball sündteure Strecken errichten, kassiert unverschämte Antrittsprämien in zweistelliger Millionenhöhe und zieht nach ein paar Jahren weiter zur nächsten Geldquelle. Auch bei der Vermarktung setzt er konsequent auf die Handelsrouten der Vergangenheit, vor allem aufs Fernsehen. Er weigert sich beharrlich, die Formel 1 im Internet ankommen zu lassen. Bis heute existiert zum Beispiel keine offizielle Facebook-Präsenz der Formel 1. Genau auf dieses Vakuum zielt die Formel E ab.

Mit der neuen Rennserie hat die Fia der Formel 1 interne Konkurrenz im Kampf um die Metropolenjugend geschaffen. Die Formel E startet ab Herbst mit reinen Elektroautos auf Großstadtkursen in London, Berlin und Peking. Und ihr Promoter Alejandro Agag kennt die Zielgruppe offenbar besser als die Macher der Formel 1. Während Ecclestone seine Großen Preise weiterhin als Vip-Welt begreift, folgt Agag dem Datenhighway der Transparenz- und Mitmachkultur. Seine Elektroautos inszeniert der Spanier nicht als unerschwingliche Jungmännerträume, sondern als Gadget für jedermann.

Echte Piloten treten am Bildschirm gegen Gamer an

So will Agag die Fans im Internet vor den Rennen abstimmen lassen, welcher Fahrer auf der Strecke einen Zusatzboost bekommen soll. Und per GPS-Ortung sollen künftig Spieler zu Hause virtuell in die Rennen einsteigen und gegen die realen Piloten antreten können. Mehr noch: Agag will ein virtuelles Saisonfinale, bei dem die echten Piloten am Bildschirm gegen die Hobbyraser antreten. Anklicken, mitrasen, #Weltmeister – sieht so der Rennsport der Zukunft aus?

Die Altvorderen beim Automobil-Weltverband haben über diese Ideen fassungslos die Köpfe geschüttelt. Dabei ist Agag so Mainstream, wie man nur sein kann. Er vereinigt nur die derzeit erfolgreichsten Konzepte unserer Medienwelt: Casting-Show, Social Media, Gaming, Tourismus, Seifenoper, Sport. Dazu freier Eintritt an den Strecken, wo man für ein Formel-1-Wochenende fast das Budget eines Jahresurlaubs hinblättern muss.

In Berlin überholt Formel E die Formel 1 bereits

In Berlin jedenfalls hat die neue Formel die alte schon überholt. Hier wollten sie Ecclestones Zirkus ums Verrecken nicht. Stattdessen werden 2015 die Elektroautos der Formel E auf dem Tempelhofer Feld fahren, weil die Stadtoberen in dieser Form der Mobilität die Zukunft sehen.

Tatsächlich ist es nicht mehr völlig unvorstellbar, dass die Formel E die Formel 1 irgendwann an Popularität überflügelt. Und im Mai 2015 wird es zum ersten direkten Duell kommen. Dann steht der Große Preis von Monaco an, traditionell der Höhepunkt der alten Formelwelt. Kurz zuvor wird die Formel E im Fürstentum starten. Das Rennen um die Zukunft des Motorsports, es hat längst begonnen.

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