Saisonauftakt im Skispringen: Severin Freund: „Wir reiten auf der Rasierklinge“
Zum Saisonbeginn spricht Olympiasieger Severin Freund über Gefühle beim Springen, seltene Zufriedenheit und Musik als Hilfe.
Herr Freund, Sie sind nun Team-Olympiasieger und Skiflug-Weltmeister – trotzdem bekommen Sie nicht so viel Aufmerksamkeit wie früher Sven Hannawald oder Martin Schmitt.
Das ist vollkommen in Ordnung. Ich brauche das nicht, um zu wissen, was ich erreicht habe.
Warum ist der Rummel um Sie, nun da am Samstag in Klingenthal die neue Saison beginnt, kleiner als um Ihre Vorgänger?
Erst mal bin ich noch ein Stückchen weit weg von ihren Erfolgen. Und es gab damals ein aufgebautes Medieninteresse. Ich habe jetzt aber nie das Gefühl, dass wir untergehen. Zugleich sind wir noch in der Pflicht, etwas zu bringen. Außerdem wollen wir ja erst auf dem Weg zum Hoch sein.
Spüren Sie dennoch, dass Sie nach den Erfolgen der vergangenen Saison anders wahrgenommen werden?
Ich merke schon, dass mich mehr Leute erkennen. Da hat Olympia einiges verändert, Olympia hat einfach einen anderen Horizont. Aber ich starte jetzt ja trotzdem bei null Punkten.
Sie haben es mittlerweile also verinnerlicht, wie schnell es im Skispringen schwanken kann?
Skispringen ist immer ein fragiles System. Und man ist permanent auf der Suche, wie man dieses System stabilisieren kann. Selbst wenn du richtig gut in Form bist, kann es dir passieren, dass du drei vollkommen unterschiedliche Wettbewerbe erlebst. Deswegen glaube ich: Man muss es einfach nüchtern betrachten.
Fällt das Ihnen nicht schwer?
In dem Moment, in dem man gerade Vierter geworden oder gestürzt ist, ist es natürlich schwer. Aber es geht gar nicht anders, als darauf nüchtern zu blicken. Natürlich muss man sich ärgern. Doch wenn man sich an der Wut und dem Frust aufhängt, wird es nicht besser. Man muss einen Weg finden, damit fertig zu werden und es in etwas Positives zu verwandeln.
Was ist dafür entscheidend?
Wenn man versucht, den Status quo festzuhalten, ist es zu spät. Selbst wenn du extrem gut in Form bist, darfst du nicht denken: das friere ich jetzt ein. Das funktioniert bei uns nicht. Dieser Aspekt macht das Skispringen extrem faszinierend, aber manchmal auch sehr frustrierend. Denn so oft du Probleme hast und nicht weißt warum, passiert es dir oft auch, dass du genau dann in einen Flow kommst, wenn du es gar nicht erwartest.
Wie schafft man es, in diesem Flow zu bleiben?
Man wird nie das eine Rezept für den Erfolg haben. Ich glaube aber, ich werde immer besser darin, den richtigen Rhythmus zu finden. Ich weiß immer stärker, was ich technisch brauche und mental.
Wann sind Sie zufrieden mit Sprüngen?
Es ist weniger vom Ergebnis abhängig als von dem, was ich auf der Schanze mache, was ich dort sehe, was ich fühle. Es gab Wettbewerbe, die habe ich gewonnen und ich wusste: Die Sprünge waren nicht das, was ich kann. Ich hatte eben gute Bedingungen oder sonst irgendwas. Genauso gab es Wettkämpfe, da wusste ich, dass ich gut gesprungen bin, aber es hat nicht sollen sein. Generell bin ich mit sehr wenigen Sprüngen absolut zufrieden. Ich bin manchmal nah dran. Der perfekte Sprung gelingt aber nur sehr selten. Weil es von so vielen Einflussfaktoren abhängig ist. Außerdem: Wenn du suchst, findest du in allen Sprüngen Potenzial.
Ist es überhaupt gut, zufrieden zu sein im Skispringen?
Man muss zufrieden sein können, sonst wird es schnell verkrampft. Genauso braucht man immer die Vision, wo es hingehen kann. Wenn man die nicht hat, rutscht man schnell ins Einfach-nur-machen ab. Das ist aber nicht zielgerichtet.
Könnten Sie mittlerweile noch einen einfachen Sport ausüben?
Wahrscheinlich nicht mehr (lacht). Aber welcher Sport ist schon einfach, wenn man ihn auf einem gewissen Niveau betreibt. Es hängt immer an Kleinigkeiten und was bei uns hinzukommt, sind all die äußeren Faktoren. Da wird es dann schon hochtechnisch.
"Das Springen ist immer ein Ausloten von Grenzen"
Sie wirken nach Siegen nicht aufgekratzt. Aber genauso nach Misserfolgen nicht frustriert. Wieso können Sie so gut mit Enttäuschungen umgehen?
Ich musste das lernen, sonst wäre ich nicht erfolgreich geworden. Es gab auch andere Zeiten, in denen ich mich sehr ärgern konnte. Zeiten, in denen ich mich mehr geärgert als gefreut habe – aber das hat meistens nicht geholfen. Und dann bin ich an den Punkt gekommen, an dem ich gemerkt habe, dass ich den Misserfolg genauso verarbeiten muss, aber dass ich ihn schneller abhaken muss.
Wie sind Sie über die Jahre zum Topathleten geworden?
Sicher gibt es Schlüsselerlebnisse. Etwa 2008 als wir bei der Junioren-WM Gold geholt haben. Und dann, als ich im Weltcup gemerkt habe: Ich schaffe es konstant unter die Top 15. Das waren kleine Schritte, die mir viel geholfen haben. Bis dann der große Schritt mit meinem ersten Weltcup-Sieg 2011 kam. Danach ist es richtig ins Rollen gekommen und die Entwicklung ging schneller. Das sind schon extreme Gefühle, besonders wenn man im Sprung spürt, was man kann.
Was spüren Sie während des Sprungs?
Es ist immer ein Ausloten von Grenzen: Bis wohin fliegt es noch? Ab wo fliegt es nicht mehr? Wo ist es am effektivsten? Denn meistens gehen die Sprünge richtig ab, die wir auf der Rasierklinge geritten haben. Und bei solchen Sprüngen kann es eben genauso schnell in die andere Richtung gehen. Das ist das entscheidende Spiel bei uns.
Mit welchem Gefühl gehen Sie in die neue Saison?
Ich habe ein ziemlich gutes. Ich habe gut trainiert. Nun kommt das Feingefühl wieder und von der Athletik stimmt es auch.
Das heißt?
Ein wichtiges Ziel ist: Negatives aus der Vorsaison vergessen machen – das war die Vierschanzentournee. Ich habe zwar kein Ergebnis im Kopf. Aber bisher habe ich es noch nie geschafft, während der Tournee in der Form zu sein, in der ich sein wollte. Das will ich ändern. Dann ist in dieser Saison ja auch wieder eine WM – und wenn man im Skifliegen Gold geholt hat, sollte das auch beim Skispringen drin sein. Ich peile also eine Medaille an.
Und der Gesamtweltcup?
Der ist definitiv im Hinterkopf, denn das ist für mich das größte, was man gewinnen kann. Aber das ist so ein Ziel, das sich erst über eine Saison entwickelt.
Für Sie geht nun die intensive Reisezeit wieder los. Sie sind ein großer Serien-Fan. Womit haben Sie sich für die langen Abende im Hotel ausgestattet?
Gerade bin ich in den letzten Zügen von „The Wire“, einer grandiosen Serie, die bisher an mir vorbeigegangen war. Bei der neuen „Homeland“-Staffel bin ich dabei. Und ich hoffe auf eine neue Staffel von „True Detective“. Da war die erste schon sehr genial. Es wird uns also nicht langweilig werden.
Sie schicken Ihren Fans via Facebook auch immer ihren aktuellen Musiktipp. Wie ist es dazu gekommen?
Irgendwann habe ich es mal aus Spaß gemacht, dann fanden es ein paar Leute ziemlich cool. Ich höre einfach viel Musik. Das ist normal, wenn man viel unterwegs ist. Aber ich brauche Musik auch an der Schanze. Wir Skispringer rennen dort nicht nur mit Kopfhörern rum, damit uns keiner anspricht – obwohl das manchmal auch ganz hilfreich ist. Aber vor allem ist es eine gute Möglichkeit sich abzulenken, oder um sich in einen wettkampffähigen Zustand zu bringen.
Was hören Sie denn?
Ich habe eine ziemlich große Bandbreite: von „The XX“ über „La Roux“ bis zu Regina Spektor und vielem mehr. Ich höre auch oft Remixe. Je nachdem, in welcher Stimmung ich bin und in welche Stimmung ich mich versetzen möchte.
Das Gespräch führte Johannes Nedo.