Eine Typologie der Tore des Jahres: Schönheit kommt mit dem Fall
Seit 1971 wird das „Tor des Jahres“ gewählt. Doch was macht einen Treffer besonders? Unsere Typologie der bislang 49 Tore gibt Aufschluss.
Am vergangenen Wochenende wurde nun Marcel Hartel die Ehre zuteil: Das Tor des Jahres 2019 hatte er im Trikot des 1. FC Union erzielt – per Fallrückzieher. Doch wann gilt ein Tor eigentlich erst als so richtig schön? Bei welchen Toren kriegt das deutsche Publikum Schnappatmung? Und wie muss ein Tor erzielt werden, um sich auf ewig in die Geschichtsbücher zu katapultieren? Zeit für einen genaueren Blick auf all die bisherigen Sieger. Zeit für eine Typologie der bislang 49 Tore des Jahres.
Drehschuss (1-mal; 2 %)
Ok, fangen wir unten an. Ganz unten. Das wohl bis in alle Ewigkeit schlimmste Tor des Jahres hat Oliver Bierhoff geschossen. 1996, EM-Finale gegen Tschechien. Sein Golden Goal ist ein einziger Unfall: Ein langer Ball, wie er in der deutschen Fußballzunft wohl einmal als die höchste Kunst des Spielaufbaus galt, ein irgendwie erstrampeltes Kopfballduell, eine völlig überhastete Halbflanke, Bierhoffs ungelenke Ballannahme mit einem zappelnden Gegenspieler auf dem Rücken, der völlig irrwitzige Drehschuss – und der Torwartfehler, der das deutsche Nationalteam zum Europameister macht.
Aber Effizienz geht in Deutschland eben über Ästhetik, das war schon immer so. Und wenn es was zu gewinnen gibt, dann wird eben auch mal ein optischer Krampf zum Tor des Jahres gewählt, jawoll! Schland!!1!
Kopfbälle (2-mal; 4,1 %)
Jawoll, Schland!!1! Sie haben schon richtig verstanden: Hauptsache, wir gewinnen was. Dann wählen wir nämlich nicht nur einen Flugkopfball von Gerd Müller, sondern sogar mal den Treffer einer Frau zum Tor des Jahres. Den eher durchschnittlich spektakulären Kopfball von Nia Künzer nämlich, der uns 2003 den Weltmeistertitel bescherte.
Kam davor und danach übrigens nicht noch einmal vor, eine Frau auf Platz eins. Das kann natürlich nur daran liegen, dass im gesamten Fußballkosmos der Frauen noch nie ein furioseres Tor gefallen ist. Und nicht etwa daran, dass fußballspielende Frauen immer noch gnadenlos unterrepräsentiert sind und man ihre Tore höchstens mal zufällig in einer spätabendlichen Regionalsportsendung zu sehen bekommt.
Kombinationen (2-mal; 4,1 %)
Lassen Sie sich nichts erzählen – Fußball ist kein Teamsport! Zumindest wenn es um die ganz spektakulären Tore geht. Dann will das Publikum heldenhafte Einzelleistungen sehen, waghalsige Geniestreiche, selbstverliebte Kunstwerke. Anders ist nicht zu erklären, warum es bislang nur zu zwei Treffern nach hübschen Kombinationen (Günter Netzer und Gerd Müller 1972; Julian Draxler und Raúl 2013) unter den 49 Toren des Jahres gereicht hat.
Aber wer hierzulande lieber ein Pässchen zu viel als zu wenig spielt, macht sich eben schnell des „Sterbens in Schönheit“ verdächtig. Fragen Sie mal Pep Guardiola.
Heber und Schlenzer (3-mal; 6,1 %)
Kurt Meyer war 79 Jahre alt, als er noch einmal für die Alten Herren von Blau Weiß Post Recklinghausen gegen die Kugel trat. Im Freundschaftsspiel gegen den FC Jungsiegfried Hillerheide stoppte er einen Flachpass etwas wacklig mit der Hacke, drehte sich um die eigene Achse und schlenzte den Ball gekonnt mit dem Innenrist in den Winkel.
Ein Kamerateam des WDR fing das auf, und am Ende des Jahres 2001 war Meyer plötzlich der bis heute älteste unter all den Kunstschützen beim Tor des Jahres. Mit seinem Schlenzer ist er Teil eines erlesenen Trios, dem nur noch Lars Ricken („Lupfen jetzt!“) und Señor Raúl angehören. Es braucht also ganz offensichtlich noch mehr als nur ein feines Füßchen, um das Publikum zu überzeugen.
Freistöße (4-mal; 8,2 %)
Dieser Argwohn gegenüber feinen Füßchen zeigt sich auch anhand der Freistoßtreffer, die es zum Tor des Jahres geschafft haben. Feine Chips unter die Latte? Geh weg, Mehmet Scholl! Gefühlvolle Schlenzer neben den Pfosten? Leider nein, Bernd Schneider! Scharfe Trickschüsse ins Torwarteck? Hier nicht, Thomas Häßler! Es braucht rohe Gewalt! Wenn Günter Netzer, Rainer Bonhof, Michael Ballack oder Marcel Risse den Ball mit Vollspann in die Maschen zimmern, dann ist die Welt in Ordnung.
Volleys (6-mal; 12,2 %)
Allerdings … wenn der Ball nicht ruhig am Boden liegt, sondern aus der Luft kommt, sieht die Sache doch ein bisschen anders aus. Klar, wenn ein Lothar Matthäus den Ball nach einer Ecke direkt aus 23 Metern in den Winkel trümmert, dann ist ein Lothar Matthäus völlig zu Recht mal nicht Tor des Jahres, sondern hat es nur geschossen. Aber es geht auch anders: Oliver Neuville per eingesprungenem Hackendreher oder Carsten Kammlott per Scorpion-Kick zeigen, dass es auch mit feiner Klinge klappt.
Oder man setzt einfach die Anweisungen („MACH IHN! MACH IHN!“) von ARD-Kommentator Tom Bartels in die Tat um („ER MACHT IHN!“) und trägt dabei den Namen eines abgöttischen Super-Klempners („MARIO GÖTZE!“).
Solos (7-mal; 14,3 %)
Eine Kategorie wie gemacht für Super-Klempner und -helden, die es alleine mit der ganzen Welt aufnehmen. Die wie Ulrik Le Fevre oder Karl-Heinz Rummenigge im Strafraum Hacke-Spitze-Tralala mit ihren Gegnern spielen. Die sich wie Pierre Littbarski oder (noch) ein Lothar Matthäus kraftmeierisch durch die gegnerischen Reihen pflügen. Oder die mit ihren Kabinettstückchen gleich ein ganzes Team der Lächerlichkeit preisgeben.
Oliver Kahn muss angeblich noch heute mit drei Packungen Anti-Stress-Kaugummi beruhigt werden, wenn er an Jay-Jay Okocha denkt. Und wer in München den Namen Grafite erwähnt, wird von Uli Hoeneß persönlich zur Stadionwurst (400 Gramm, würzig, leichte Zwiebel/Lauch-Note) verarbeitet.
Fernschüsse (9-mal; 18,4 %)
Für die Metrik des Tor des Jahres gilt überdies folgender einfach proportionaler Zusammenhang: Je größer Schussdistanz x, desto größer Tor-des-Jahres-Wahrscheinlichkeit p.
Die Untergrenze des Fernschuss-Intervalls haben führende Fußballmathematiker momentan auf etwa 24 Meter bestimmt (Podolski-Koeffizient), die Obergrenze ist auf präzise 63 Meter vermessen (Diego-Konstante). Wichtigster Faktor: Ein Torwart, der damit nicht rechnet (Köpke-Variable).
Fallrückzieher (15-mal; 30,6 %)
Der (tatsächlich) große Fußball-Philosoph Arnd Zeigler hat es schon vor Jahren erkannt: „Wenn deutsche Fernsehzuschauer bei einer Wahl zum ‚Tor des Irgendwas’ einen Fallrückzieher sehen, dann stellt sich augenblicklich verstärkter Speichelfluss ein, und dann wählen sie, einem Zombie gleich, genau dieses Tor zum ‚Tor des Dingsbums’“. Seitfallzieher und Fallrückzieher sind der Deutschen größter Fußball-Fetisch. „Wie einst Klaus Fischer“, entfährt es noch heute jedem Reporter andächtig, wenn etwa Jürgen Klinsmann, Olaf Marschall oder zuletzt nun Marcel Hartel vor einem Tor rücklings in der Luft gelegen haben.
Kein Wunder also, dass Fallrückzieher-Spezialist Fischer mit drei Toren des Jahres so viele Auszeichnungen wie sonst niemand eingeheimst hat. Kein Wunder, dass sein 1977er-Treffer auch zum „Tor des Jahrhunderts“ gewählt wurde. Und kein Wunder, dass der Fallrückzieher mit großem Abstand am häufigsten zum Tor des Jahres gewählt wird. Das gehört sich hier eben so.
Leonard Brandbeck