Schach-WM 2014, Carlsen vs. Anand: Schach als Populärsportart - warum?
Es ist schon seltsam, dass etwas derart Langweiliges wie ein Schachspiel, das sich über viele Stunden hinziehen kann und sehr oft mit einem Unentschieden endet, weltweit hunderte Millionen Menschen in seinen Bann zieht. Woran liegt das? Ein Kommentar.
Ein philosophisches Problem hat die Form: Ich kenne mich nicht aus. So hat es Ludwig Wittgenstein formuliert. Nun ist nicht jede Frage, auf die eine Antwort schwerfällt, ein philosophisches Problem. Aber seltsam ist, dass etwas derart Langweiliges wie ein Schachspiel, das sich über viele Stunden hinziehen kann und sehr oft mit einem Unentschieden endet, weltweit hunderte Millionen Menschen in seinen Bann zieht. Woran liegt das? Alle Internetseiten, die den WM-Kampf zwischen Magnus Carlsen und Viswanathan Anand live übertragen, verzeichnen rekordverdächtige Zugriffszahlen. Im Zehntelsekundentakt wird gechattet und getwittert, analysiert und diskutiert. Schach als Populärsportart – was erklärt das Phänomen?
Die beiden Kontrahenten sind’s eher nicht. Zwar geht von Carlsen eine gewisse Aura aus, jung, reich, attraktiv, sportlich, aber ohne jene Faszination des genialen Exzentrikers, wie sie ein Bobby Fischer erzeugte. Noch weniger charismatisch ist der Inder Anand, der normalerweise als lustig, bescheiden, fleißig beschrieben wird. Außerdem fehlt die Dimension der weltpolitischen oder computerrevolutionären Überfrachtung des Ereignisses. Fischer gegen Spassky, 1972 in Reykjavik: Das war das Großduell der Systeme, Amerika gegen die Sowjetunion. Legendär der Flehanruf des damaligen Nationalen Sicherheitsberaters Henry Kissinger bei Fischer, dieser möge doch bitte nicht vorzeitig abreisen. Dann die Dauerfehde zwischen Sowjet-Vasall Anatolij Karpow und Dissident Garry Kasparow. Oder die Niederlage Kasparows 1997 gegen den IBM-Computer „Deep Blue“. Maschine schlägt Mensch.
Carlsen und Anand beleben sie die Kernelemente des Spiels – die Psychologie und das Denken
Von solcher Dramatik sind Carlsen und Anand weit entfernt. Deshalb allerdings beleben sie die Kernelemente des Spiels – die Psychologie und das Denken. Bei der Premiere vor einem Jahr konnte der Norweger den Inder deklassieren. Anand gewann kein einziges Spiel. Das zehrt am Selbstbewusstsein. Der Begriff „Angstgegner“ hat besonders beim Schach seine Berechtigung. Doch plötzlich drehte der Herausforderer den Spieß um, erzielte seinen ersten WM-Sieg gegen Carlsen in beeindruckender Manier. Carlsen hasst es zu verlieren. Er ist es nicht gewohnt, Niederlagen in kurzer Zeit zu verarbeiten. Wessen Herz klopft nun schneller vor Nervosität? Die größte Spannung indes erzeugt der Live-Moment. Wie ist es, Menschen beim Denken zuzusehen? Man stelle sich vor, unsere Gedanken würden auf unserer Stirn visualisiert. Traum oder Alptraum? Auf einem Schachbrett stehen 32 Figuren auf 64 Feldern, es gibt mehr Spielvarianten als Atome im bisher entdeckten Universum. Doch nicht immer gewinnt der beste Zug, manchmal ist es der überraschendste. Durch die Internetübertragung der Spiele und das gleichzeitige Kommentieren der Züge wird das Denken der Kontrahenten nachvollziehbar. Die einsamste Tätigkeit, die Menschen kennzeichnet, wird gewissermaßen kollektiv zugänglich. Sich einmal als Schachweltmeister fühlen oder ihm gar überlegen: Das Internet macht’s möglich. Menschen können Flugzeuge bauen, Gedichte schreiben, Musikwerke komponieren. Dazu brauchen sie Geist und Intelligenz. Spitzenschachspieler verkörpern solche urmenschlichen Qualitäten, und sie reizen das Publikum, ihr Denken verstehen zu wollen. Manchmal also denkt man, weil es sich bewährt hat. Auch das stammt von Wittgenstein.
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