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Fitter als vor zwei Jahren. Zur WM in Brasilien wurde Sami Khedira nur mit Müh und Not fit. Auf die Europameisterschaft in Frankreich in diesem Sommer fühlt sich der 29-Jährige besser vorbereitet.
© dpa

Motor des deutschen Spiels: Sami Khedira ist fitter für die EM als man denkt

Sami Khedira hat das Image, ständig verletzt zu sein. Auf den zweiten Blick stimmt das nicht. Der deutsche Mittelfeld-Motor hat eine sogar eigene Theorie dazu und fühlt sich bereit für die EM.

Sami Khedira hat sich in den vergangenen zweieinhalb Jahren sehr intensiv mit dem Thema Anatomie beschäftigt. Natürlich hat das auch etwas mit seiner persönlichen Krankenakte zu tun. Doch wenn man Khedira über seinen Körper reden hört, so detailliert und kenntnisreich, spricht daraus mehr als nur ein berufliches Interesse.

Seit nun sechs Jahren geht Khedira seinem Beruf als Profifußballer fast ausschließlich im Ausland nach, zuerst bei Real Madrid, inzwischen bei Juventus Turin. Die Betrachtung aus der Heimat ist da zwangsläufig eine flüchtige. Die breite Öffentlichkeit merkt nur auf, wenn etwas Außergewöhnliches passiert, wenn zum Beispiel mal wieder aus Italien vermeldet wird, dass Khedira sich erneut verletzt hat. In Deutschland ist dadurch ein wenig der Eindruck entstanden, dass der 29-Jährige so gut wie gar nicht mehr auf dem Fußballplatz steht. In Wirklichkeit hat er in der vergangenen Saison doppelt so lange gespielt wie in den beiden Spielzeiten zuvor zusammengenommen.

Khedira kann schon deshalb nicht dauerverletzt gewesen sein, weil es unstrittig ist, dass er in seinem ersten Jahr in Italien maßgeblich zum Doublegewinn seines Klubs Juventus Turin beigetragen hat. „Er versteht es auf großartige Weise, das Spiel zu lesen und zu animieren“, hat sein Vereinstrainer Massimo Allegri über den Mittelfeldspieler aus Deutschland gesagt. „Er strahlt einfach Ruhe aus, macht sehr wenig Fehler, steht fast immer genau richtig.“ Offiziell, so berichtet Khedira, habe er in dieser Saison sechs Muskelverletzungen gehabt. In vier Fällen aber habe keine strukturelle Schädigung vorgelegen. „Man kann auf den Bildern nichts sehen“, sagt er. „Es waren neurogene Verletzungen, ein Verbindungsproblem zwischen Nerven und Muskeln.“

Man neigt dazu, bei Khedira den Ursprung aller körperlichen Probleme im November 2013 zu suchen, als dem Nationalspieler im Test gegen Italien das Kreuzband riss. In Rekordzeit kämpfte er sich zurück, sechs Monate später gewann er mit Real die Champions League, im Juli 2014 schließlich mit Deutschland den WM-Titel. Aber schon im Finale fehlte Khedira, weil die Wade zwickte. Solche Verletzungen sind nicht ungewöhnlich, weil durch falsche Belastungen andere Körperteile in Mitleidenschaft gezogen werden können. Nach diesem Muster wird noch heute Khediras komplette jüngere Verletzungshistorie gedeutet. „Das sind keine Folgeverletzungen mehr“, sagt er. „Sie können schon davon ausgehen, dass ich mir viele Gedanken darüber mache, woher die Verletzungen kommen können.“ Er konsultiert auch regelmäßig einen Spezialisten, der sich des Problems angenommen hat.

Bei einer neurogenen Verletzung wird der Muskel vom motorischen Nerv nicht richtig versorgt. So ähnlich war das auch bei der Nationalmannschaft während der WM 2014. Sie hatte im defensiven Mittelfeld ebenfalls kein strukturelles Problem, sondern gewissermaßen ein neurogenes. Bastian Schweinsteiger und Sami Khedira hätten in der Zentrale vor der Abwehr der motorische Nerv des deutschen Spiels sein sollen. Sie waren aber nicht in der Lage, die Mannschaft richtig zu versorgen – weil sie mit sich selbst und ihren geschundenen Körpern genügend Probleme hatten. Das ist diesmal, vor der am Wochenende beginnenden Europameisterschaft in Frankreich, anders. Zumindest bei Sami Khedira.

"Ich bin im Rhythmus", sagt Khedira

„2014 war ein Kampf mit der Zeit“, sagt Khedira. „Da war nicht klar: Schaff’ ich’s oder schaff’ ich’s nicht?“ Khedira entschied den Kampf schließlich für sich, im ersten Gruppenspiel stand er in der Startelf, „aber ich war körperlich natürlich nicht auf einem Top-Niveau“. Von sieben WM-Spielen bestritt er nur zwei über die volle Distanz, drei Mal stand er nicht in der Startformation. Diesmal, vor der EM, ist sein persönliches Gefühl viel besser. „Ich bin im Rhythmus“, sagt er, obwohl Khedira am Saisonende drei Wochen wegen einer Wadenverletzung ausgefallen ist und unter anderem das italienische Pokalfinale verpasst hat. „Ich habe zwar immer wieder Kleinigkeiten gehabt, aber die haben mich nie wirklich aus der Bahn geworfen.“

Sein Wechsel von Real zu Juventus hat sich als richtige Entscheidung erwiesen. In Madrid fühlte sich Khedira am Ende „ein bisschen abgeschrieben“, in Turin „werde ich so gesehen, wie ich mich selbst sehe“, sagt er. „Bei Juve habe ich einen neuen Geist in mir entdeckt.“ Einen Geist, den bei der EM auch das DFB-Team brauchen wird, das am Dienstag ihr Quartier in Évian-les-Bains bezogen hat.

„Er spielt bei uns eine zentrale Rolle“, sagt Bundestrainer Joachim Löw über Sami Khedira. Vielleicht sogar mehr denn je. Mit Bastian Schweinsteiger lässt sich für die EM noch nicht verlässlich planen, auch wenn er am Samstag gegen Ungarn nach zweieinhalb Monaten Verletzungspause sein Comeback in der Nationalmannschaft gegeben hat. Khedira hingegen stand bei beiden Testspielen während der Vorbereitung in der Startelf. Gerade weil Schweinsteiger noch nicht auf turniertauglichem Niveau ist und die beiden Jungspunde Julian Weigl und Joshua Kimmich nicht die Erfahrung für eine solche Veranstaltung mitbringen, wird Khedira als Stabilisator in der Defensive benötigt. Neben Toni Kroos ist er die zentrale Figur im Mittelfeld der Nationalmannschaft.

Khedira ist einer jener Spieler, die einen Laden zusammenhalten, die das große Ganze über das eigene Fortkommen stellen. Auch vor zwei Jahren in Brasilien wollte er helfen, wichtig sein, aber sein Körper spielte nicht mit. Das ist diesmal anders. Sami Khedira sagt: „Man kann ganz anders Einfluss nehmen, wenn man mit sich im Reinen ist.“

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