Olympia 2016: Robert Harting, mit letzter Kraft
Verfall, sagt Robert Harting, ist ein ekliges Gefühl. In Rio will der 31-Jährige seinen Körper ein letztes Mal überlisten.
Es ist ihm nicht leichtgefallen – das Kofferpacken für seine Reise nach Rio de Janeiro. Früher hat Robert Harting vor großen Wettkämpfen einfach seine Sachen in eine Sporttasche geworfen. Harting, 31 Jahre alt, macht sich mittlerweile mehr Gedanken. Welche Schuhe sind für den Wettkampf die richtigen? Was ist, wenn es regnet? Also doch lieber ein anderes Paar? Die Selbstverständlichkeit, die ihn einst ausgezeichnet hat und ihn 2012 in London zum Olympiasieger machte, sie ist ihm abhandengekommen. Er war lange verletzt, hat an sich gezweifelt. Als Athlet und als Mensch. Seitdem hat er viel hinterfragt. Wer er ist. Was er kann, was sein Körper kann.
Wenn Deutschlands erfolgreichster Diskuswerfer bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro an diesem Freitag in der Qualifikation und am Samstag im Finale in den Ring steigt, könnte ihm genau das noch einmal zur Goldmedaille verhelfen.
Vor zwei Jahren riss sich Robert Harting im linken Knie das Kreuzband. 15 Monate lang konnte er keinen Wettkampf bestreiten.
Im Februar dieses Jahres, kurz vor seinem Comeback bei einem Hallenwettkampf in Berlin, spricht er über diese Zeit. Zum Treffen in einem Café in Weißensee ist Harting allein gekommen. Er trägt einen dicken Schal und bestellt Ingwertee. Harting ist erkältet, grüblerisch, leiser als sonst. Er fühle sich im Ungewissen, sagt er, „wie in einer Schneekugel“. Die intuitiven Bewegungsmuster, die er als Sportler braucht, seien verschwunden. Sein einst unerschütterliches Selbstvertrauen haben sie mitgenommen. Das kaputte Knie. Die frustrierende Zeit der Rehabilitation. Die fehlende Geschwindigkeit beim Abwurf. Die ständigen Schmerzen schon beim Aufstehen.
Zuvor hat Harting, 1984 in Cottbus geboren und aufgewachsen, die Eltern ebenfalls Leistungssportler, das Diskuswerfen weltweit über Jahre dominiert.
Nun scheint Harting seine Identität als Sportler verloren zu haben. „Man distanziert sich in so einer langen Pause vom Leistungssportler in sich“, sagt er im Café. „Der rückt weg, weil er keine Aufgaben mehr hat.“
Harting weiß, dass es nicht nur ihm so geht, dass andere Ausnahmeathleten Ähnliches durchmachen. Der kanadische Basketballstar Steve Nash, der wegen chronischer Rückenschmerzen seine Karriere beendete, hat über seine Leidenszeit einmal gesagt: „Wenn ein Sportler seine Fähigkeiten verliert, geht auch ein großer Teil seiner selbst verloren.“ Sein Antrieb, sein Selbstvertrauen, seine Identität. „Wenn die sportliche Leistung verschwindet“, sagte Nash, „fühlt es sich an, als würde man sterben.“ Man muss wohl annehmen, dass auch Robert Harting diesem Tod ins Auge geblickt hat.
Nach langem Zweifeln glaubt er nun, dass es ihn stärker gemacht hat.
Robert Harting spricht gern über sich selbst. Seine Titel und Triumphe machten ihn im deutschen Sport zu einer Marke. Nach Siegen zerriss der 2,01 Meter große und 126 Kilogramm schwere Mann sein Trikot, präsentierte seinen enormen Brustkorb. Harting weiß dann immer sehr genau, in welcher Ecke die meisten Kameras stehen. Die immer größer werdende kahle Stelle auf seinem Kopf wollte er nicht hinnehmen, ließ sich Haare transplantieren. Beim Gespräch in Weißensee ist er verstimmt, weil ihm niemand gesagt hatte, dass ein Fotograf dabei sein würde. Harting verschwindet kurz auf der Toilette und prüft sein Äußeres.
Dann spricht er über sein Inneres. In der Verletzungspause habe er das Ende seiner Karriere greifen können, sagt Harting. „Ich habe mich gefragt, wer ich eigentlich bin.“ Er müsse erst einmal sehen, was von ihm als Sportler übrig sei. Nach einem Olympiasieg im Rio klingt das nicht. „Ganz ehrlich“, sagt Harting, „momentan glaube ich nicht daran.“
Robert Harting versteht es wie kein zweiter deutscher Sportler, seine Botschaften zu verbreiten. Harting ist wie viele Athleten offiziell Sportsoldat der Bundeswehr. Zuvor hatte er an der Universität der Künste Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation studiert. Harting weiß sich zu verkaufen – auch wenn es diesmal darum geht, sich als zurückhaltenden, nachdenklichen Mann zu inszenieren. In den Monaten vor den Olympischen Spielen ist er besser geworden – auch darin, immer neue Sprachbilder für seinen Zustand zu finden. Sein Körper, sagt Harting, sei wie ein alter Akku, der sich viel zu schnell entlade und viel zu lange brauche, um wieder einsatzbereit zu sein. Oder doch eher ein Computer, dessen überholte Software nur noch gerade so laufe. Vielleicht aber, sagt Harting, sei er auch ein Geländewagen, der auf gerader Strecke keine Chance gegen moderne Wagen der Formel 1 habe.
In jedem Fall begreift Harting seinen Körper offenbar als Maschine.
Sein erster Wettkampf nach 15 Monaten ist das Istaf Indoor in der Berliner Mercedes-Benz-Arena am Ostbahnhof. Harting ist der Star, seit Wochen wird in der Stadt auf Plakaten mit seinem Gesicht für die Veranstaltung geworden. Als er unter dem Jubel der mehr als 10 000 Zuschauer die Halle betritt, werden Videoclips gezeigt: Harting als Weltmeister, Harting als Olympiasieger, Harting als Sportler des Jahres – aber auch Harting im Krankenhaus, Harting im Eisbad, Harting im Kraftraum.
Nach 531 Tagen ohne Wettkampf startet Harting schlecht. Er schüttelt immer wieder den Kopf, hadert mit sich, das Publikum raunt, es erkennt seinen Liebling nicht wieder. Im sechsten und letzten Versuch aber steht plötzlich wieder der alte Robert Harting im Ring. Er wirft. Weiter als alle anderen an diesem Abend, Sieg. Er brüllt seine Freude, den Frust und die Anspannung aus sich heraus: „Allein dafür hat es sich schon gelohnt zurückzukommen.“
Der Alte ist er deswegen noch nicht. Diskuswerfen ist eine komplizierte Disziplin, eine Kombination aus perfekter Technik, dynamischer Beschleunigung und brachialer Kraft. Bei seinem Wurf holt Harting bedächtig Schwung, rotiert dann rasend um die eigene Achse, stemmt sein linkes Knie – das mit dem operierten Kreuzband – in den Boden und lässt den Diskus mit dem rechten Arm fliegen. Für Laien lassen sich bei dieser Bewegung kaum Unterschiede zu früher erkennen, allerdings fliegt sein Diskus im Februar noch lange nicht so weit wie früher. Harting, der seit seiner Kindheit in unzähligen Trainingseinheiten an seiner Technik und an seinem Körper gearbeitet hat, spürt jede Veränderung, jede Schwäche genau.
„Man merkt es beim Abwurf, am Wurfgefühl, die Schnelligkeit lässt nach“, sagt er. „Ich habe meine körperliche Veränderung unterschätzt.“ Er habe viel von seiner Leistungsfähigkeit verloren, schuld daran seien die Verletzung – und sein Alter. Lange hat Harting alles mit sich selbst ausgemacht, nun hilft ihm ein Psychologe, sein neues Sportler-Ich zu akzeptieren. „Mit 25 ging alles vorwärts, man konnte sich immer verbessern. Mit 31 bist du auf dem absteigenden Ast“, sagt Harting. „Was ich vor fünf Jahren noch richtig gut konnte, kann ich jetzt viel schlechter. Vergänglichkeit ist ein ekliges Gefühl.“
Im Mai, seine Form wird langsam besser, der nächste Rückschlag: Im Training zieht sich Harting einen Muskelfaserriss im Brustmuskel zu. Das Gleichgewicht in seinem Körper, das er mühsam wiederhergestellt hatte, droht erneut zu kippen. Und die Zeit drängt: Im Juni muss er sich bei den Deutschen Meisterschaften in Kassel für Olympia qualifizieren, die Konkurrenz in Deutschland ist groß. Harting spricht vorher von „Armageddon-Meisterschaften“, es wäre für ihn ein Weltuntergang, wäre er nicht einer der drei deutschen Diskuswerfer geworden, die nach Rio fahren dürfen.
Harting wird rechtzeitig fit, er tritt in Kassel an. Doch wieder klappt bei den ersten fünf Versuchen wenig. Dann aber merkt er, dass der Wind günstig steht, Harting steigt sofort in den Ring, schleudert den Diskus zum Sieg – der Geländewagen hat das Wetter genutzt, um an den Rennautos vorbeizuziehen. Harting hat 68,04 Meter geworfen und ist damit der Beste in Kassel: Es ist sein neunter Meistertitel in Deutschland – Harting ist nun in Rio de Janeiro dabei.
Von Reportern umringt spricht er in Kassel davon, dass bei seinem Siegeswurf viel Glück im Spiel war, sein „Hintern hat geglüht“, eigentlich sei eine solche Weite noch gar nicht wieder sein Niveau. „Dieser Wurf eröffnet mir ganz andere Selbstvertrauensdimensionen“, sagt Harting. „Alle Adern, die verkalkt waren, sind jetzt wieder durchblutet. Das setzt so viele Endorphine und Energiereserven frei, da kann man erst mal gut von leben.“ In Rio de Janeiro aber, da ist sich Robert Harting sicher, wird ihm noch etwas anderes helfen: Demut.
Die Erkenntnis, dass er sich nicht so wichtig nehmen sollte, sei ihm vor ein paar Monaten beim Anblick einer Straßenbahn der Berliner Linie M13 gekommen. Die Tram fährt am Sportforum Hohenschönhausen vorbei, wo er trainiert. Harting haderte wieder einmal mit sich, als die Straßenbahn pünktlich wie an jedem anderen Tag um die Kurve zuckelte, immer Fahrgäste ein- und ausstiegen. Da habe er verstanden, dass es eigentlich unwichtig sei, was er so tue. Er habe begriffen, dass er sich glücklich schätzen sollte, sich überhaupt noch einmal mit den Besten der Welt messen zu können. Dass es nicht so sehr auf den Sieg ankomme, sondern auf „den sportlichen Kern“, die Freude an der Auseinandersetzung. Ist das nun das neue Sportler-Ich, das er annehmen lernen wollte?
Vor vier Jahren in London war er noch ein ganz anderer. Nur als Olympiasieger könne er sich als kompletter Athlet fühlen, sagte er damals. Schon vor London quälten ihn heftige Knieschmerzen, Harting ignorierte sie einfach. „Ich brauche diesen Sieg, um nicht zu zerbrechen“, sagte er. „Und wenn ich später im Rollstuhl sitze – ich will dieses verdammte Gold.“ Heute sagt Harting, der Druck, den er sich in London gemacht habe, sei furchtbar gewesen.
Nach einer olympischen Goldmedaille und drei WM-Titeln sieht er sich in Rio nun als Jäger und nicht mehr als den von allen Gejagten – eine Rolle, die ihm angeblich gut gefällt. Harting hofft auf schwieriges Wetter, also auf Bedingungen, die seine jungen Konkurrenten zermürben und ihm dank seiner Erfahrung einen Vorteil verschaffen: „40 Grad, Saunagefühl, wenn alles in der Brust brennt – das habe ich gerne.“ Für die Qualifikation am Freitag ist Regen angesagt, für das Finale am Samstag viel Sonne und Hitze. Sein Plan könnte aufgehen.
Robert Harting hat sein Selbstvertrauen zurück. Das merkt man schon daran, dass er als einziger deutscher Leichtathlet zu einer Pressekonferenz im Trainingslager in Kienbaum bei Berlin einlädt. Und sich noch vor seinem Start in Rio mit allen wichtigen Figuren des Sports anlegt. Als das Internationale Olympische Komitee, das IOC, entscheidet, russische Athleten trotz erwiesenen Staatsdopings in Rio starten zu lassen, attackiert Harting den deutschen IOC-Präsident Thomas Bach. „Für mich ist er Teil des Doping-Systems – und nicht des Anti-Doping-Systems.“ Und er sagt über den mächtigsten Sportfunktionär der Welt noch im Trainingslager in Kienbaum: „Ich schäme mich persönlich für Thomas Bach.“
Kurz vor seinem Flug nach Brasilien nimmt er sich auch den populärsten Athleten der Welt vor, Sprintstar Usain Bolt. Er würde den Jamaikaner gerne fragen, warum er in der Doping-Frage nicht deutlicher Stellung beziehe. Als bekanntester Athlet der Welt müsse der sich doch der aktuellen Diskussion stellen. Er kann es nicht lassen, sich einzumischen. Robert Harting redet nicht nur über Doping, sondern fordert auch, die deutschen Athleten besser für ihre Leistungen zu entlohnen.
Die intensivsten Gespräche, die er vor seinem Wettkampf in Rio de Janeiro führt, dringen jedoch nicht an die Öffentlichkeit. „Ich führe Diskussionen mit meinem Körper“, sagt Harting, „wir diskutieren permanent darüber, dass ich gerne mehr hätte, als er gibt.“
Es ist Robert Harting zuzutrauen, dass er seinen Körper überredet, ihm in Rio de Janeiro noch ein letztes Mal zu gehorchen. Und ihm – vielleicht nur für einen einzigen Wurf – mehr zu geben, als er eigentlich zu geben in der Lage ist.