zum Hauptinhalt
Gelbe Karte, rote Karte. Die Bedeutung des Schiedsrichters ist größer denn je.
©  Dragon Images/Imago

Fußball-Schiedsrichter: Plädoyer für einen verkannten Job: Die Macht der Pfeife

Schiedsrichter haben nichts mehr zu sagen? Von wegen! In Zeiten des Videobeweises ist ihre Bedeutung größer denn je. Und das hat mehrere Gründe.

Als der verantwortliche Mann Jochen Drees in dieser Woche bei einer Schulungsveranstaltung ein Zwischenfazit zu seinem Projekt zieht, dreht sich alles um das fußballdeutsche Wort des Jahres 2018: Videobeweis. Er polarisiert und ist in mindestens einem der neun Bundesliga-Stadien pro Spieltag Thema Nummer eins. 37 Entscheidungen haben die Videoassistenten in der Bundesliga- Hinrunde korrigiert. Zufrieden damit aber sind längst nicht alle. Hannovers Sportdirektor Horst Heldt, der so etwas wie der Chefankläger des Videobeweises ist, sagte zum Ende der Hinrunde, dass „der ganze Scheiß wirklich nicht mehr akzeptabel“ sei.

Dabei ist es doch im Amateurfußball wie im Profifußball: Menschen machen Fehler, Fußballer und auch Schiedsrichter. Das macht den Sport an sich manchmal nicht berechenbar, egal ob es einen Videobeweis gibt oder nicht. Und auch wenn sich manche Mannschaften manchmal benachteiligt fühlen, gleichen sich die Ungerechtigkeiten in der Saison aus. Es kommt also immer noch auf den Schiedsrichter an, wahrscheinlich mehr denn je. Er ist der Entscheider, er soll Spiele leiten ohne aufzufallen, soll 90 Minunten höchst konzentriert und möglichst fehlerfrei bleiben. Von welchem Fußballer wird das schon verlangt.

Kernkompetenzen im Amateurbereich gefragt

Weil die Anforderungen so groß sind und um die Quote der Fehlentscheidungen möglichst gering zu halten, gibt es auch im Amateurbereich Schulungen. Die drehen sich inhaltlich weniger um den Videobeweis, als um korrekte Angaben im Spielbericht, die Einhaltung von Vorschriften bei der Passkontrolle, aber natürlich auch um wichtige Regelfragen und Szenen der vergangenen Bundesliga- Spiele. Dort, wo es sich nicht um den Videobeweis oder die Torlinientechnik dreht, sind die Schiedsrichter noch mehr darauf angewiesen, ihre Spiele auf selbstständige Weise zu leiten, sie haben keinen Back-up, der bei falschen Entscheidungen eingreift. In den meisten Verbänden haben sie selbst in der Bezirksliga nicht einmal Assistenten an der Seitenlinie. Da kommt es auf die Kernkompetenzen der Schiedsrichter an: In Sekundenbruchteilen Entscheidungen treffen, kommunizieren und als Persönlichkeit ausstrahlen, alles im Griff haben, um die Entscheidungen nicht nur zu treffen, sondern auch richtig zu verkaufen.

Um gerade jungen Schiedsrichtern dieses Handwerkszeug möglichst früh auf den Weg zu geben, gibt es mittlerweile nicht nur auf Verbandsebene, sondern auch in den meisten Fußballkreisen Förderpools. Die jungen Talente werden von erfahrenen Schiedsrichter-Kollegen geschult, um eine Persönlichkeit auf dem Platz zu entwickeln – in den meisten Fällen auch mit Videostudien der geleiteten Partien. Die Pools sind so etwas wie Talentschmieden für Schiedsrichter und Sprungbretter in die höheren Spielklassen. Dort lernen sie mehr, als einfach nur die richtigen Entscheidungen zu treffen. Wie alle Schiedsrichter müssen sie sich zwar daran messen lassen, möglichst wenige Fehler zu machen. Doch landen nicht nur diejenigen in der Bundesliga, die durch eine niedrige Fehlerquote auffallen. Es geht auch um das souveräne Autreten. Die richtige Ausstrahlung eben.

Gefragter Mann. Ex-Schiedsrichter Jochen Drees ist "Projektleiter Videobeweis".
Gefragter Mann. Ex-Schiedsrichter Jochen Drees ist "Projektleiter Videobeweis".
© Arne Dedert/dpa

Dass Jochen Drees, der Projektleiter für den Videobeweis in der Bundesliga, zuletzt klarstellen musste, dass der Unparteiische im Stadion trotz des Videobeweises der wichtigste Mann bleibt und am Ende ganz alleine die Entscheidung trifft, sagt viel darüber aus, wie die Referees inzwischen wahrgenommen werden. Der Videoassistent sei, wie das Wort schon sagt, „ein Assistent, nicht der zweite Schiedsrichter oder der Oberschiedsrichter“, sagte Drees. Wie auch sonst sollte ein Spiel laufen? Die Vorstellung, dass der Kollege im Kölner Keller jede Entscheidung trifft und der Schiedsrichter auf dem Platz diese nur absegnen muss, ist grotesk. Keine Technik der Welt kann das leisten, was ein Unparteiischer auf dem Rasen leistet. Er kommuniziert. Das ist mindestens genauso wichtig wie der Fakt, dass er – mit Hilfe seiner Assistenten – entscheidet.

Und damit sind wir bei dem entscheidenden Punkt: Videobeweis und Technik vergrößern die Bedeutung der Schiedsrichter sogar noch. Denn erst dadurch wird klar, wie schwierig es ist, die richtigen Entscheidungen zu treffen und was dazu gehört, wenn man ein Spiel zwar leiten, aber nicht auffallen soll.

So mancher Kreisliga-Schiedsrichter würde vielleicht nicht nur auf den heimischen Kunstrasen, sondern auch im Berliner Olympiastadion mehr richtige Entscheidungen treffen als so mancher Bundesliga-Schiedsrichter. Das hört sich erst einmal nach einem vernichtenden Urteil der Elite-Schiedsrichter an – ist es aber nicht. Denn ein profifußballtauglicher Schiedsrichter zeichnet sich nicht nur durch richtige Entscheidungen aus, sondern auch dadurch, wie er diese in erster Linie den Spielern, aber auch den Trainern und Zuschauern vermittelt und verkauft.

"Außenwirkung" ist das entscheidende Kriterium

In Schiedsrichter-Schulungen nennt man das „Außenwirkung“. Wer eine knappe Abseitsentscheidung in der Bundesliga mit hängenden Schultern und zweifelndem Blick trifft, wird eher attackiert als ein Schiedsrichter, der mit aufrechter Haltung und Selbstbewusstsein die Hand hebt. Es ist eine Form der nonverbalen Kommunikation, die im Fußball von großer Bedeutung ist. Für den Videobeweis bedeutet das: Wenn die Spieler merken, dass ein Schiedsrichter sich verunsichern lässt und unsicher bei jeder zweiten Entscheidung seine Hand zum Ohr führt, um sich abzusichern, dann hat er das Spiel wahrscheinlich nicht unter Kontrolle. Die Spieler erkennen die Autorität des Unparteiischen nicht mehr an.

Hinzu kommt die verbale Kommunikation. Schiedsrichter müssen in wichtigen Momenten die richtigen Worte finden, um das Spiel zu beruhigen. Bildet sich, wie es in den vergangenen Monaten häufiger zu sehen war, bei einer kniffligen Szene eine Spielertraube um den Schiedsrichter, muss dieser standhaft bleiben und seine Entscheidung klar und deutlich machen. Gerade erfahrene Spieler erkennen die wunden Stellen der Schiedsrichter schnell. Wenn dieser aber sachlich und zweifelsfrei erklärt, warum es mit Strafstoß, Eckstoß oder Einwurf weitergeht, kann er die Brisanz aus dem Spiel nehmen.

Das Hauptkriterium für einen Schiedsrichter, Karriere zu machen, ist also nicht, dass er fehlerfrei sein muss – sondern umsichtig, selbstbewusst und durchaus auch sozialkompetent. Daher ist es auch ein Trugschluss, dass sehr gute Schiedsrichter automatisch auch gute Videoassistenten sind. Im Kölner Keller, wo die Videoassistenten sitzen, brauchen sie ihre Körpersprache nicht, müssen sich vor Spielern nicht rechtfertigen und befinden sich in einer Komfortzone.

Trennung zwischen Videoassistenten und Schiedsrichtern

Projektleiter Jochen Drees ist daher davon überzeugt, dass es perspektivisch eine Spezialisierung gibt – die einen werden Schiedsrichter auf dem Platz, die anderen haben mehr Talent, knifflige Szenen am Bildschirm zu bewerten. Noch geschehen die Ansetzungen der Videoassistenten eher willkürlich. Es spielt dabei eine untergeordnete Rolle, ob Schiedsrichter und Videoassistent als Team funktionieren – dabei ist auch hier die Kommunikation das wichtigste, vielleicht noch wichtiger als zwischen Assistenten an der Seitenlinie und dem Schiedsrichter. Denn die kommunizieren zwar auch über Headsets, können sich zusätzlich aber sehen – und im Zweifel das direkte Gespräch suchen.

Videobeweis. Der Anfang einer unmissverständlichen Geste.
Videobeweis. Der Anfang einer unmissverständlichen Geste.
© imago/Thomas Frey

Zudem sind die Schiedsrichtergespanne, also die Schiedsrichter und seine beiden realen Assistenten, eingespielte Teams. Nur in seltenen Fällen, wenn einer von ihnen verletzt oder verhindert ist, wird ein anderer Unparteiischer „ausgeliehen“. Das Vertrauen und die Vertrautheit sind extrem wichtig, weil sich die Unparteiischen mindestens 90 Minuten lang aufeinander verlassen müssen. Mit Videoassistenten, mit denen die Kommunikation nicht eingespielt ist, kann der Schiedsrichter nur schwerlich seine beste Leistung abrufen.

Es gehört auch für Schiedsrichter viel dazu, um in die höchste Spielklasse Fußball-Deutschlands aufzusteigen. Sie alle eint, dass sie von der Kreisliga über die Förderpools der Kreise und Verbände bis in den Profifußball das beste Gesamtpaket unter den deutschen Schiedsrichtern geboten haben. Sie wurden von ihren Fußballkreisen ausgewählt, in die Kaderschmieden der Verbände geschickt und setzten sich dort von der Bezirksliga bis zur Regionalliga durch. Sie wurden von meist ehemaligen Profi-Schiedsrichtern beobachtet, die sie unter die besten ihrer Kader beriefen. Und letztlich landeten sie alle in den deutschen Profiligen, wo sie ebenfalls zu den Besten unter den Besten gehörten. Bis zur Bundesliga. Bis sie den Videobeweis kennenlernen.

Doch diese Besten der besten Schiedsrichter sind vor allem unparteiische und kommunikative Persönlichkeiten auf dem Feld. Schiedsrichter werden immer noch und mehr denn je gebraucht. Keine Technik der Welt kann und wird sie jemals ersetzen können. 

Der Autor ist seit 2010 Schiedsrichter im Landesverband Westfalen und Mitarbeiter der Tagesspiegel-Sportredaktion.

Zur Startseite