Karriereende am Samstag: Philipp Lahm: Wegbereiter der Moderne
Mit Philipp Lahm verabschiedet sich am Spieltag der Bundesliga einer der einflussreichsten Fußballer der jüngeren Vergangenheit. Eine Würdigung.
Der Aufstieg in die Champions League hat den Fußball-Bundesligisten Rasenballsport Leipzig vermutlich einen mittleren dreistelligen Millionenbetrag gekostet. Dass der FC Bayern München sich unter den Top-Klubs Europas etablieren konnte, hat ihm 50 000 Euro eingebracht.
50 000 Euro Strafe musste Philipp Lahm im Herbst 2009 an die Bayern bezahlen, weil er sich in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ ein paar grundsätzliche Gedanken über die strategische Ausrichtung seines Arbeitgebers gemacht hatte. Es war vielleicht die beste Investition seines Lebens.
In jenem Interview hatte Lahm seinen Klub mit der Frage konfrontiert: Wer wollen wir eigentlich sein? Die Bayern hatten gerade Louis van Gaal als neuen Trainer verpflichtet, aber richtig warm wurden sie mit dem eigensinnigen Holländer erst einmal nicht. In der Bundesliga belegte der Rekordmeister nach zwölf Spieltagen nur Platz acht, hinter unter anderem Bremen, Mainz und Hoffenheim, und in der Champions League waren die Bayern in ihrer Gruppe nach vier Spieltagen lediglich Dritter. Mit anderen Worten: Die Münchner befanden sich in einer existenziellen Krise. Und was machte Lahm? Stärkte van Gaal im Interview mit der „SZ“ zumindest indirekt den Rücken, kritisierte die erratische Transferpolitik seines Klubs und mahnte, dass „man als FC Bayern eine Spielphilosophie“ brauche.
Die Bayern verdonnerten Lahm dafür zu einer rekordverdächtigen Geldstrafe – und nahmen sich seine Kritik zu Herzen. Louis van Gaal wurde nicht entlassen (noch nicht). Am Ende der Saison 2009/10 holten die Bayern das Double, in der Champions League erreichten sie erstmals seit ihrem Triumph 2001 wieder das Finale, und das sollte erst der Anfang sein. Überlegen waren die Bayern in Deutschland immer schon, aber die totale Dominanz der vergangenen Jahre ist ohne die Intervention Lahms im Herbst 2009 kaum vorstellbar. Philipp Lahm darf für sich also durchaus reklamieren, den modernen FC Bayern zumindest mitgemacht zu haben.
Sein Gespür für Fußball
Wenn der Kapitän der Münchner sich seines privaten Twitteraccounts bedient, dann eigentlich nur, um erschreckende Belanglosigkeiten in die Welt zu entlassen. Auch in Fernsehinterviews weiß er seine Wörter akkurat zu setzen. Man konnte den kleinen Münchner daher leicht unterschätzen. Dass ihm Hermann Gerland, sein früherer Ausbilder im Bayern-Nachwuchs, schon früh „ein sensationelles Gespür für das Spiel“ bescheinigt hat, ist zweifellos richtig. Aber es gilt nicht nur für das Spiel an sich, sondern auch für das viel größere Spiel namens Profifußball.
„Ich weiß, dass meine Meinung überall etwas zählt. Und dann muss man die auch sagen“, hat Lahm, ebenfalls 2009, in einem Interview mit dem Tagesspiegel gesagt. Als er 2010, bei der WM in Südafrika, gefragt wurde, ob er die Kapitänsbinde freiwillig wieder an Michael Ballack abgeben werde, antwortete er wahrheitsgemäß, dass er das nicht vorhabe – und wahrscheinlich wusste er ganz genau, welche Wirkung diese Aussage entfalten würde.
Im Rückblick ist dieser scheinbar achtlos ausgesprochene Satz nichts weniger gewesen als der Anfang vom Ende der Ära Ballack. Lahm musste die Binde tatsächlich nicht mehr abgeben. Als Ballack nach seiner schweren Verletzung wieder spielfähig war, war die Zeit über ihn hinweggegangen, nicht nur fußballerisch. Ausgerechnet vom kleinen Philipp war der letzte lebende Leitwolf des deutschen Fußballs gnadenlos weggebissen worden. Ballack stand für das Prinzip des starken Mannes. Lahm war der Gegenentwurf. Schon als Ballack noch Kapitän der Nationalmannschaft war und unangefochtener Führungsspieler, hat Lahm gesagt, dass er den Begriff Führungsspieler nicht möge: „Heute gibt es nicht mehr den einen Spieler, der eine Mannschaft führt. Heute verteilt sich dieser Anspruch doch auf mehrere Schultern. Jeder Einzelne hat auf seine Art und Weise Verantwortung für die Mannschaft zu übernehmen.“
Lahm hat auf dem Feld nie den großen Macker markiert
Mit diesem Prinzip ist Deutschland 2014 Weltmeister geworden – mit Philipp Lahm als Kapitän, Bastian Schweinsteiger als nahezu gleichberechtigtem Partner und weiteren starken Persönlichkeiten wie Manuel Neuer, Sami Khedira und Mats Hummels.
Es ist schon paradox, dass kaum noch jemand von Michael Ballack spricht, der ein Jahrzehnt lang der einzige deutsche Weltklassefußballer war und vielen noch heute als einer jener Typen gilt, die man angeblich braucht, um im Fußball etwas zu gewinnen. Lahm hat das geschafft, worum sich Ballack immer vergeblich bemüht hat: Er ist Weltmeister geworden und hat die Champions League gewonnen – auf seine Art.
Lahm, 33 Jahre alt, hat auf dem Feld nie den großen Macker markiert – trotzdem ist er einer der einflussreichsten Fußballer des vergangenen Jahrzehnts gewesen. Er musste auch nicht den Macker markieren, weil er als Fußballer einfach überragend gut war, egal ob links in der Viererkette, rechts in der Viererkette oder zentral vor der Viererkette. Sein Führungsstil war im Grunde nichts anderes als die Fortsetzung seines Spiels mit den gleichen Mitteln: unaufgeregt, intelligent, zurückgenommen, trotzdem zielorientiert und effizient. Für Pep Guardiola war Lahm „der intelligenteste Spieler, den ich je trainiert habe“. Und obwohl der Spanier mit Superlativen nicht gegeizt hat, dürfte er in diesem Fall mal nicht übertrieben haben.
So geht an diesem Wochenende in München eine beeindruckende Karriere zu Ende. Dort, wo sie auch am 13. November 2002 im Olympiastadion begonnen hat, als Lahm zum ersten Mal für die Profis der Bayern auflief. Im letzten Gruppenspiel gegen den RC Lens wurde er in der Nachspielzeit für Markus Feulner eingewechselt – eine Viertelstunde nach einem gewissen Bastian Schweinsteiger, der in jenem Spiel ebenfalls sein Debüt in der ersten Bayern-Mannschaft feierte.
Knapp 15 Jahre sind seitdem vergangen, in denen Lahm zum ersten Fußballer des Landes aufgestiegen ist. Auf 384 Einsätze in der Bundesliga kann er zurückblicken, 113 Länderspiele, sechs große Turniere mit der Nationalmannschaft, den WM-Gewinn, den Champions-League- Sieg, acht Meistertitel und sechs DFB-Pokalsiege. Lahms Vertrag bei den Bayern lief eigentlich noch bis zum Ende der kommenden Saison, doch auf dessen Erfüllung zu bestehen, wäre für die Bayern allenfalls eine theoretische Möglichkeit gewesen. „Irgendwann ist es einfach zu Ende, und das Ende will ich selbst bestimmen“, hat Lahm gesagt.
An diesem Samstag, nach seinem finalen Auftritt gegen den SC Freiburg, wird Lahm als Kapitän der Bayern noch einmal die Meisterschale in Empfang nehmen, es wird noch einmal frische, fröhliche Bilder von ihm geben – anders als bei seinem letzten großen öffentlichen Auftritt zuvor. Nach dem Pokalhalbfinale gegen Dortmund stand Lahm im ARD-Studio, mit stierem Blick, belegter Stimme und zusammengepressten Lippen. Es sah fast so aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Dass die Bayern gegen Borussia Dortmund verloren hatten, lag auch an einem Fehler, wie er ihm im Laufe seiner Karriere nicht oft unterlaufen ist. Beim Stand von 2:2 war Lahm im Mittelfeld bei der Annahme der Ball versprungen; der folgende Konter brachte das Siegtor für den BVB.
Derartige Schludrigkeiten kannte man gar nicht von Mr. Perfect. „Er ist manchmal fast zu perfekt“, hat sein alter Gefährte Bastian Schweinsteiger einmal gesagt. „Wenn er einen Fehlpass macht, will ich manchmal schon applaudieren, weil es fast nie vorkommt.“