Rücktritt nach Weltmeistertitel: Philipp Lahm beendet Karriere als Nationalspieler
Philipp Lahm tritt nach 113 Spielen ab und beendet eine Länderspielkarriere, die der WM–Titel vergoldete. Joachim Löw, dem DFB, seinen Mitspielern, den Fans: Lahm wird allen fehlen.
Fast hätte sich Philipp Lahm durch einen Hinterausgang verabschiedet. Es dauerte lange, bis sich der Kapitän in den Katakomben des Maracana sehen ließ. Es schien, als habe er abwarten wollen, bis seine aufgekratzten Mitspieler wie Thomas Müller den Reportern ihre ausgelassen Statements diktiert hatten. Der Plan ging jedenfalls nicht auf, Lahm schlich in einigem Abstand vorbei, bis er doch noch an die Mikrofone gebeten wurde. Er sprach kurz und verschwand schnell.
Es passte zu dem Bild der eher innerlichen Freude, die Lahm nach dem Gewinn des WM-Titels ausstrahlte. Bastian Schweinsteiger etwa schien kaum genug von Pokal und Party zu bekommen, der Mannschaftsspielführer dagegen verzichtete darauf, sich allzu sehr in den Mittelpunkt zu stellen. Vielleicht lag es auch an den Gedanken um das nahende Ende, die er bei der Krönung seiner Länderspiellaufbahn schon mit sich herumtrug.
Am Freitag, fünf Tage nach dem Titelgewinn, wählte Lahm dann den Vorderausgang: „Im Laufe der vergangenen Saison habe ich den Entschluss gefasst, nach der Weltmeisterschaft meine Länderspielkarriere zu beenden“, teilte der Spieler in einem Statement auf der Internetseite des DFB mit. „Diese Entscheidung habe ich am Montag beim Frühstück Bundestrainer Joachim Löw mitgeteilt. Ich bin glücklich und dankbar, dass mein Karriereende in der Nationalmannschaft mit dem Gewinn der Weltmeisterschaft in Brasilien zusammenfällt.“ Nach 113 Länderspielen in zehn Jahren ist nun Schluss. Ohne Titelgewinn als Unvollendeter zu gehen, das blieb ihm erspart. Gründe nannte er nicht. Sein Berater Roman Grill sagte „Sport1“, Lahm habe seit letztem Oktober daran gedacht, sich nach Brasilien auf die Klubkarriere beim FC Bayern zu konzentrieren.
Es ist ein früher Abschied mit gerade 30 Jahren. Wer Lahms konstant hochklassige Leistungen im letzten Jahrzehnt und zuletzt in Brasilien verfolgt hat, der konnte sich vorstellen, dass er auch noch 2018 ein WM-Turnier auf hohem Niveau bestreiten könnte. Und doch scheint es keinen passenderen Kontext für einen Rückzug zu geben. Seit seinem Debüt in einem der schwärzesten Jahre der Länderspielgeschichte 2004 hat er die deutsche Mannschaft an die Weltspitze geführt. Mehr konnte Lahm eigentlich nicht erreichen. Den Scheitelpunkt der Schaffenskraft selbst als Schlusspunkt zu bestimmen, das ist nicht vielen gelungen.
Der Entschluss war reiflich überlegt. DFB-Präsident Wolfgang Niersbach sah schnell ein, dass alle Überredungskünste zwecklos erschienen, als ihn Lahm am Freitag telefonisch von der Entscheidung unterrichtete. Auch wenn sie noch nachwirkt. „Ich bin seit drei Tagen im Urlaub“, teilte Lahm mit, „und habe hier Ruhe und Zeit, meine Nationalmannschaftskarriere gedanklich abzuschließen.“
Es war eine große Karriere, das lässt sich bereits abschließend sagen.
Die WM-Titel 1954, 1974 und 1990 sind im Rückblick stark mit den jeweiligen Kapitänen Fritz Walter, Franz Beckenbauer und Lothar Matthäus verknüpft. Beim vierten Stern standen Torwart Manuel Neuer, Toni Kroos, Thomas Müller oder Rekordtorjäger Miroslav Klose im Mittelpunkt, selbst das ist als Kompliment an den Kapitän zu sehen. Die konstante Klasse Lahms, nicht nur im Finale, ist vielen schon selbstverständlich geworden.
Eine Statistik sagt eigentlich schon alles über die Ära Lahm: In 113 Länderspielen ist er nicht ein Mal eingewechselt worden. Wenn Lahm fit war, spielte er von Beginn, egal ob anfangs als Linksverteidiger, später rechts oder im defensiven Mittelfeld, klaglos und gut. Als einziger der spät vergoldeten Generation um ihn, Bastian Schweinsteiger, Lukas Podolski und Per Mertesacker, die alle 2004 debütierten, war er nie umstritten. Der einzige Makel war, dass es nur einen Philipp Lahm gab, der nun gleich auf drei Positionen eine sportliche Lücke hinterlässt, auch wenn sie im Mittelfeld am geringsten ausfällt.
In Zweifel gezogen wurde allein sein Führungsstil. Lahm trat weder im Verein noch im Nationalteam in Tradition von Leitwölfen wie Matthäus, Effenberg oder Ballack auf. Doch er führte durch Leistung und in steter Rücksprache mit Bundestrainer Joachim Löw. Er hatte diese Rolle ehrgeizig angestrebt, sie eingefordert sowohl beim FC Bayern als auch 2010 als Nachfolger Michael Ballacks im Nationalteam. Dennoch sahen viele Beobachter seinen Mitspieler Bastian Schweinsteiger als heimlichen, emotionalen Leader.
Schweinsteiger wäre ein logischer Nachfolger als Kapitän. Als er in Brasilien gefragt wurde, ob dies mit 30 Jahren seine letzten WM sein würde, antwortete er: „Ich bin 29 und kann in vier Jahren spielen.“ Lahm wich dagegen Fragen damit aus, dass man sehen werde, was komme.
Was kommt, ist dass er zwar bis 2018 weiterspielt, aber nur noch in München. Vor der WM verlängerte er seinen Vertrag und erklärte, die Karriere beim FCB zu beenden. Der „Sportbild“ sagte Lahm, er verlasse das Nationalteam „in völliger Harmonie“. Harmonischer als mit dem WM-Triumph beim 100. Länderspielsieg seiner Laufbahn lässt sich kaum abtreten.