WM 1958: Pelé, das Wunschkind
Am Sonntag vor 50 Jahren revolutionierte der Brasilianer Pelé bei der Weltmeisterschaft in Schweden den Fußball. Die Brasilianer waren damals mehr als nur etwas Neues - und ein 17-Jähriges Bürschchen führte sie an.
Das „Konferenshotel Hjortviken“ liegt mitten im Grünen an einem See. Die Gäste schätzen am Hjortviken die Ruhe, aber auch die Nähe zur Großstadt, es sind nur 20 Minuten mit dem Auto bis nach Göteborg. Vor 50 Jahren logierte hier eine Reisegruppe aus Südamerika, das Hjortviken war für einen kurzen Sommer der Mittelpunkt der Fußballwelt. Im Sommer, als der Kulturschock Pelé die Welt erschütterte. Ja, sagt die Dame am Empfang, „hier war das Quartier der brasilianischen Mannschaft während der Fußball-WM 1958 in Schweden“. Nein, von den damaligen Mitarbeitern arbeite niemand mehr im Hotel, „ist ja auch schon eine Weile her“. Die Dame vom Empfang hätte im Sommer 1958 gar nicht am Empfang stehen dürfen. „Da er den sexuellen Appetit seiner Landsleute kannte, bestand der brasilianische Mannschaftsarzt darauf, dass die 28 weiblichen Angestellten durch männliches Personal ersetzt wurden“, schreibt Alex Bellos in seinem grandiosen Buch „Futebol – die brasilianische Kunst des Lebens“. Es gibt Bilder, die zeigen Pelé beim Werfen von Dartpfeilen. Um ihn herum stehen vier, fünf blonde Mädchen, die es irgendwie an den Kontrollen vorbei geschafft haben, sie lächeln verschämt. „Die schwedischen Mädchen liebten uns“, hat Pelé später in seiner Autobiografie geschrieben, „insbesondere die schwarzen Spieler. Ich schätze, wir waren etwas Neues für sie.“
Die Brasilianer waren nicht nur etwas Neues, sie waren eine Revolution, und der Revolutionsführer war ein 17-jähriges Bürschchen, das mit seinen dünnen Beinen unfassbare Dinge anstellte. Eher zufällig trug Edson Arantes do Nascimento, genannt Pelé, die Nummer 10, die seitdem genialen Strategen vorbehalten ist. Und alles begann an diesem 15. Juni 1958. Vor exakt 50 Jahren. Ein Unentschieden im letzten Vorrundenspiel gegen die Sowjetunion hätte den Brasilianern gereicht, um ins Viertelfinale einzuziehen. Aber mit Unentschieden hatten sie so ihre Erfahrungen. Acht Jahre zuvor, bei der WM in Brasilien, im eigens dafür erbauten Maracana-Stadion von Rio, hatten die Zeitungen schon Sonderausgaben produziert, die den neuen Weltmeister feierten, ein winziges Unentschieden gegen Uruguay fehlte noch. Brasilien lag 1:0 vorn, verlor doch 1:2 und versank in tiefe Trauer. Diese Niederlage gilt noch heute als größte Katastrophe eines Landes, das nie einen Krieg in seinen Grenzen miterleben musste.
Man muss diese Vorgeschichte kennen, um Pelés Bedeutung für Brasilien zu verstehen. Pelé war damals als weitgehend unbekannter Nachwuchsspieler gerade noch ins Aufgebot gerutscht. Die Qualifikation gegen Peru war Brasilien nur mit Mühe gelungen, dazu gab es in der Südamerika-Meisterschaft gegen Argentinien eine Niederlage, daheim wurde eine neuerliche Blamage befürchtet. Pelé hatte sich in einem Testspiel am Knie verletzt, der Mannschaftsarzt hatte schwere Bedenken gegen seinen Einsatz. Trainer Feola nahm ihn trotzdem mit, gegen den Willen eines zuvor konsultierten Psychologen, der Pelés Berufung ablehnte – mit der Begründung, er sei noch zu kindlich und könne keine Verantwortung übernehmen. Sein Kollege Garrincha fiel ebenfalls durch, weil er dem Psychologen nicht schlau genug war. Dem Testergebnis nach fehlte ihm die mentale Reife, den Beruf eines Busfahrers zu ergreifen.
Ein Depp und ein Kind führten demnach die größte Revolution des Weltfußballs an. In den ersten beiden Spielen gegen England und Österreich saßen Pelé und Garrincha noch auf der Bank. Es ist oft kolportiert worden, die Mannschaft hätte den Einsatz der beiden von Trainer Feola gefordert. Keiner der damals Beteiligten stützt diese Version. Am 15. Juni 1958 in Göteborg liefen sie jedenfalls auf. In seinen Memoiren hat Pelé erzählt, einige der Zuschauer hätten ihn beim Warmmachen für eine Art Maskottchen gehalten. Ein kleines schwarzes Kind neben den riesigen sowjetischen Spielern. „Ich weiß noch, wie ich zu ihnen hinüberschaute und dachte: Sie sind riesengroß … aber auch große Bäume kann man fällen.“
Die ersten drei Minuten dieses Spiels gelten noch heute, nach fünf Weltmeistertiteln, als die besten, die aufregendsten der brasilianischen Fußballgeschichte. Die Fernsehbilder zeigen den sowjetischen Torhüter Lew Jaschin, damals der beste der Welt, wie er hin- und herrennt und seine Mitspieler anschreit, denn alle paar Sekunden passiert etwas Neues, nicht unbedingt Schönes für Jaschin. Es geht los mit einem langen Solo Garrinchas, das sich über eine halbe Minute lang hinzieht und in einem Pfostenschuss mündet. Kurz darauf trifft auch Pelé den Pfosten, ein paar Sekunden später erzielt Vava das 1:0. Später gelingt ihm noch ein zweites Tor zum Endstand, und die Sowjets sind froh, als das Spiel endlich vorbei ist.
Pelé schreibt, er sei gleich nach dem Abendessen auf sein Zimmer gegangen, um das Spiel in Gedanken noch einmal durchzugehen. „Ich war nicht gerade zufrieden mit mir, denn ich hatte zwei Chancen vergeben und hätte noch einige andere Sachen besser machen können. Immer noch rauschte das Adrenalin durch meinen Körper, und es war unmöglich, in den Schlaf zu fallen.“ Der Rest der Geschichte ist bekannt. Pelé schoss im Viertelfinale das Tor zum 1:0-Sieg gegen Wales, drei waren es beim 5:2 im Halbfinale gegen Frankreich und noch mal zwei beim 5:2 im Endspiel gegen Schweden, darunter jenes berühmte, als er den Ball mit dem Oberschenkel annahm, über einen Schweden lupfte und mit der nächsten Berührung im Tor versenkte. Die Welt war verzückt von dem schlanken Bürschchen, und die „Times“ schwärmte von einer „Fußballkunst, die das Verständnis vieler überschreitet“. Garrincha, das schlichte Genie, soll übrigens nach jedem Spiel gefragt haben, ob denn jetzt endlich Schluss sei, er wolle zurück zu Frau und Kindern.