Turnen: Pauline Schäfers großer Sprung
Weltmeisterin Pauline Schäfer geht zuversichtlich in die Turn-EM in Glasgow. Am Balken hat sie sich sogar noch einmal gesteigert.
Das Turnen auf dem Schwebebalken ist ein steter Balanceakt. Um ihn zu meistern, gilt es, das richtige Gleichgewicht zwischen Wagnis und Sicherheit zu finden. Pauline Schäfer hat schon früh ein gutes Gefühl dafür entwickelt. Noch bevor vor ein paar Jahren die kanadische Spezialistin Carol Ann Orchard engagiert wurde, um den deutschen Gerätkünstlerinnen den zu großen Respekt vor dem nur zehn Zentimeter breiten und fünf Meter langen Kantholz zu nehmen, hat die gebürtige Saarländerin es lieben gelernt. Geschmeidig wie eine Katze bewegt sie sich auf dem schmalen Grat und weiß das Spiel mit den Kräften für sich zu nutzen.
Ihre besonderen Fähigkeiten, gepaart mit der Zielstrebigkeit und dem Ehrgeiz, die ein Bewegungstalent erst zur Ausnahmeathletin machen, haben das Leben von Pauline Schäfer immer wieder gravierend verändert. Der Umzug der heute 21-Jährigen vor sechs Jahren nach Chemnitz, wo sie unter Trainerin Gabi Frehse zur Topsportlerin reifte, stellte einen entscheidenden Einschnitt dar. Aber was vor neun Monaten in Montréal passierte, hat noch einmal alles gründlich auf den Kopf gestellt. Als erste deutsche Weltmeisterin am Schwebebalken nach 36 Jahren war Schäfer plötzlich einer breiten Öffentlichkeit bekannt.
Plötzlich sah sich die eher introvertierte junge Frau einer ganz neuen Herausforderung gegenüber. Die gestiegene Nachfrage musste mit dem sowieso schon eng getakteten Alltag einer täglich zweimal trainierenden Bewegungskünstlerin in Einklang gebracht werden. Doch selbst hierbei scheint Schäfer den besten Weg für sich gefunden zu haben. Monatelang klinkte sie sich aus dem Wettkampfgeschehen aus, um sich den neuen Verpflichtungen zu widmen.
Am Balken holte sie den ersten WM-Titel für Deutschland nach 1981
Gleichzeitig schmiedete sie in der Halle an weiteren Schwierigkeiten, die ihre Vorträge aufwerten. Nicht nur am Balken, wo sie den Ausgangswert ihrer Übung noch einmal um wenige Zehntelpunkte gesteigert hat, sondern auch an ihrem bisher schwächsten Gerät, dem Stufenbarren, wo ihr andere aus dem eigenen Nationalteam voraus sind. „Die Pause hat mir ziemlich gut getan“, sagt Schäfer. „So hatte ich weniger Stress und konnte alles langsam angehen.“ Dazu gehört auch die Abendschule, in der sie parallel zu ihrer sportlichen Karriere das Abitur anstrebt.
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Pünktlich zu den Qualifikationswettkämpfen für die am Donnerstag beginnenden Europameisterschaften im Rahmen des neuen Multisport-Events European Championships in Glasgow meldete sie sich zurück und gewann gleich den ersten Vergleich mit der internen Konkurrenz. Bundestrainerin Ulla Koch verbuchte das mit Erleichterung. In der WM-Dritten Tabea Alt, Olympia-Bronzemedaillengewinnerin Sophie Scheder und der deutschen Mehrkampfmeisterin Elisabeth Seitz fehlen Koch gesundheitsbedingt gleich drei ihrer Spitzenkräfte im Team. Die merklich gereifte Schäfer kehrt damit, gemeinsam mit der routinierten Stuttgarterin Kim Bui, als Leitfigur für die Jüngeren, dorthin zurück, wo sie bei den Weltmeisterschaften 2015 als Dritte am Balken ihre erste internationale Medaille holte.
Für Schäfer macht die stets drohende Gefahr am Gerät den speziellen Reiz aus
Der Erfolg von damals gibt Schäfer vor der heutigen Qualifikation für das Teamfinale am Samstag und die Einzelgerätentscheidungen am Sonntag „ein gutes Gefühl“. Doch obwohl sie dabei mit der Möglichkeit liebäugelt, erstmals auch Edelmetall bei einer EM zu holen, hat sie schon das nächste Großereignis im Blick. Im Oktober stehen in der katarischen Hauptstadt Doha die Weltmeisterschaften und damit der erste Schritt in der Olympiaqualifikation für die Spiele 2020 in Tokio an. „Das ist das Ziel“, sagt Schäfer. Druck machen lassen möchte sie sich aber weder dann noch jetzt. Es sei selbstverständlich, dass sie immer so gut wie möglich sein wolle, betont sie. Aber sie müsse jetzt nicht ständig beweisen, dass sie die Beste sei.
Dennoch wird sich der Fokus am Donnerstagabend auf die Weltmeisterin richten, wenn sie Anlauf nimmt zum Sprung auf das Gerät. Zu gymnastischen Verrenkungen wie der, bei denen sie beim Spagat in der Luft mit einem Fuß den Hinterkopf berührt, zu Pirouetten, bei denen sich die ganze Halle um einen dreht, und zum Schäfer-Salto – einem freien Seitwärts-Überschlag mit halber Schraube, mit dem sie sich einen Eintrag unter ihrem Namen im Erfinderbuch des Kunstturnens gesichert hat.
Beim WM-Finale vor drei Jahren hatte Schäfer auf diese Kreation, die sie sich zwar bei einem Trainingslager in Nordamerika abgeschaut, aber als Erste auf internationaler Ebene gezeigt hatte, noch verzichtet. Zu groß schien damals das Risiko, sich danach auf dem Boden neben dem Balken wiederzufinden. Die Vorsicht zahlte sich aus, weil andere sich zu übermütig mit der Schwerkraft maßen. Für Schäfer macht genau diese stets drohende Gefahr den speziellen Reiz der eineinhalbminütigen Performance aus. Auf ihr besonderes Gefühl für Ausgewogenheit konnte sie sich zuletzt aber nicht nur dabei verlassen.
Katja Sturm
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