WM 2014 - der Blick ins Geschichtsbuch: Österreich gegen Schweiz: Der Wahnsinn vor dem Wunder
Vor 60 Jahren trafen Österreich und die Schweiz im Viertelfinale aufeinander – die „Hitzeschlacht von Lausanne“ ist das torreichste Spiel der WM-Geschichte.
Zuerst müssen sie die Langeweile besiegen. Sie warten auf ihre Abreise zum Viertelfinale der Weltmeisterschaft, und so lange lenken sich die österreichischen Fußballer um Mittelläufer Ernst Ocwirk, Stopper Ernst Happel und Stürmer Theodor Wagner mit Tischfußball ab. Wer zuerst zehn Tore hat, gewinnt. Die Sieger schreiben die Geschichte, heißt es. Und bei dieser WM könnten es die Österreicher sein, im Sommer 1954 in der Schweiz. Sie gelten als Favoriten auf den Finaleinzug. Noch vor dem Turnier hat Ungarns Kapitän Ferenc Puskas gesagt: „Die Einzigen, die wir wirklich fürchten, sind die Österreicher.“ Sein Nationaltrainer Gusztav Sebes tippt auf ein Finale Ungarn gegen Österreich. Bei den Londoner Buchmachern stehen die Quoten für einen WM-Sieg Ungarns 3:1 und Österreichs 20:1. Für Deutschland gibt es überhaupt keinen Kurs. Dieses Finale werden die Österreicher jedoch nie erreichen. Doch das wissen sie noch nicht. Nun steht aber erst einmal das Viertelfinale gegen Gastgeber Schweiz an. Während die Österreicher die Vorrunde mit einem mühsamen 1:0 gegen Schottland und einem 5:0 gegen die Tschechoslowakei überstehen, müssen die Schweizer noch ein Entscheidungsspiel gegen die punktgleichen Italiener austragen.
Am 26. Juni kommt es in Lausanne zum Duell mit Österreich. Zu Turnierbeginn Mitte Juni haben die Temperaturen unter 20 Grad Celsius gelegen. Zum Halbfinale wird es leicht regnen – Fritz-Walter-Wetter. Doch an jenem Samstag herrschen im Stade Olympique de la Pontaise 40 Grad Celsius im Schatten und 80 Prozent Luftfeuchtigkeit. Österreichs Torwart Kurt Schmied bekämpft seine Nervosität vor dem Spiel auf seine Art – er raucht einfach ein paar „Tschicks“ mehr als sonst. Die Schweizer sind berühmt für ihre Defensive. Ihr Trainer Karl Rappan, ein Wiener, ist berühmt für seinen Riegel, einen Verteidigungswall mit Manndeckung auf den Außen und Raumdeckung im Zentrum. Er überlässt bewusst den technisch stärkeren Gegnern das Mittelfeld. Es gelingt. Die Schweizer kontern die Österreicher schnell aus und führen nach 20 Minuten mit 3:0. Ein Schweizer Betreuer wird schon losgeschickt, um das Teamquartier bis zum Halbfinale zu verlängern. Und Österreichs Stürmer Theodor Wagner lässt den Kopf hängen: „Jetzt fahr’ ma heim.“ Doch Kapitän Ocwirk feuert seine Mitspieler an: „Nix fahr’ ma heim, jetzt drah’ ma die Partie noch um.“ Ein Weckruf. In neun Minuten drehen sie die Partie in ein 5:3, zweimal trifft Wagner. Die Schweiz schafft noch vor der Pause den Anschlusstreffer.
Torwart Schmied kriegt davon schon kaum mehr etwas mit. Er hat einen Hitzschlag erlitten – die Zigaretten haben ihren Teil dazu beigetragen – und taumelt nur noch umher. In der Kabine bricht er zusammen. Auch auf der anderen Seite fordert die Hitze ihren Tribut. Verteidiger Roger Bocquet kollabiert. Wie sich später herausstellt, hat es nicht nur am Wetter gelegen – er spielt trotz eines Hirntumors. Wechsel sind nicht erlaubt, alle müssen weiterspielen. Bei den Österreichern stellt sich der Masseur hinters Tor, um Schmied, der kaum noch etwas sieht, zu sagen, in welche Ecke er hechten muss. Vor ihm fängt Happel alle Flanken ab. Wagner erhöht mit seinem dritten Tor auf 6:4, doch die Schweizer verkürzen erneut. Eine Viertelstunde vor Schluss fällt die Entscheidung. 7:5. Ein Ergebnis wie beim Tischfußball. Als Torwart Kurt Schmied auf einer Trage aus dem Stadion gebracht wird, fragt er: „Wer hat denn g’wonnen?“
Die „Hitzeschlacht von Lausanne“ ist bis heute das torreichste WM-Spiel der Geschichte. Ein Jahrhundertspiel. Das Spiel der WM ’54. Eigentlich. Entkräftet und auch etwas übermütig geht Österreich als klarer Favorit ins Halbfinale gegen Deutschland – und verliert 1:6. Im kleinen Finale schlagen sie den amtierenden Weltmeister Uruguay 3:1. Dieser dritte Platz ist der größte internationale Erfolg Österreichs. Geschichte schreiben jedoch andere. In Bern.