Das deutsche EM-Aus: Ohne Offensive geht es nicht
Deutschland hat das EM-Halbfinale gegen Frankreich dominiert - und trotzdem verloren. Weil etwas Entscheidendes fehlte. Ein Kommentar.
Komisches Turnier, diese Europameisterschaft. So wird man in Deutschland vermutlich irgendwann auf die EM in Frankreich zurückblicken. Komischer Modus, komischer Fußball, komisches Finale. Komisch auch, dass die Deutschen im Halbfinale gegen Frankreich ihr vielleicht bestes Spiel bei diesem Turnier gespielt haben und sich dem Gastgeber trotz klarer Überlegenheit am Ende mit 0:2 geschlagen geben müssen.
Natürlich gibt es ein paar mehr oder weniger objektive Gründe dafür, warum das Turnier für den Weltmeister schon vor dem Endspiel zu Ende gegangen ist: das strafbewehrte Handspiel von Bastian Schweinsteiger zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Das Fehlen von drei Stammspielern. Vielleicht auch den Heimvorteil der Franzosen, die von ihren Fans ekstatisch unterstützt wurden – aber das alles würde keine Rolle spielen, wenn die Deutschen im Halbfinale auch nur auf eine halbwegs normale Quote bei der Chancenverwertung gekommen wäre.
Man sagt so schön, die Offensive gewinnt Spiele, die Defensive gewinnt Titel. An der deutschen Defensive gab es während der EM wenig zu mäkeln. Von den drei Gegentoren in sechs Spielen resultierten zwei aus Elfmetern; das dritte fiel, als die Nationalmannschaft gegen die Franzosen schon mit dem Mute der Verzweiflung um eine Wende kämpfte. Aber ganz ohne Offensive geht es leider auch nicht. Das hat die EM gezeigt, vor allem aber das Halbfinale in Marseille.
Mats Hummels, Sami Khedira und Mario Gomez haben gegen die Franzosen gefehlt – aber wer hätte vor vier Wochen gedacht, dass man den Ausfall von Gomez nach dem Spiel am meisten bedauern würden? Thomas Müller, sein Vertreter, hat sich in vorderster Front nach Kräften bemüht, doch er war im Wortsinne zu leicht, um die Rolle als Brecher im gegnerischen Strafraum zu übernehmen. Einen anderen Ersatz aber hat der Kader von Joachim Löw nicht hergegeben. Und wenn man ehrlich ist: auch die Bundesliga nicht. Es gibt ja keinen deutschen Stürmer, den Löw für die EM unbedingt hätte nominieren müssen.
Im Fußball geht's darum, Tore zu schießen, und nicht darum, den Ball möglichst lange "in Besitz" zu halten. Was die deutsche Mannschaft gestern gezeigt hat, war letztlich "brotlose Kunst". Vielleicht sollte Löw bei der anstehenden WM-Qualifikation sein Augenmerk und das seiner Spieler mal wieder verstärkt aufs Tore schießen lenken.
schreibt NutzerIn spreeathen
Was war los mit Thomas Müller?
Das Problem ist nicht neu, es lässt sich auch nicht mit einem Federstrich des Sportdirektors Hans-Dieter Flick aus der Welt schaffen – aber die Europameisterschaft dürfte jedem noch einmal die Dringlichkeit vor Augen geführt haben. Die Deutschen sind in der Lage, einen feinen Fußball zu spielen, aber sie verweigern sich gelegentlich der Zuspitzung: einfach mal ein Tor aus dem Nichts zu machen wie 2014 bei der WM, als sie die Franzosen, eigentlich das bessere Team, durch ein Kopfballtor nach einem Freistoß mit 1:0 besiegten. Diesmal war es umgekehrt. Die Deutschen dominierten das Spiel, beherrschen ihren Gegner – und kassierten unmittelbar vor der Pause wie aus dem Nichts das 0:1.
Antoine Griezmann, der zweifache Torschütze im Halbfinale und beste des Turniers, ist auch keine wuchtige Kante, aber er hat mit Olivier Giroud eine wuchtige Kante an seiner Seite, der ihm immer wieder den Weg freiräumt, der die Aufmerksamkeit auf sich zieht, so wie es auch Mario Gomez bis zu seiner Verletzung getan hat. Aber Gomez wird am Tag des Finales 31 Jahre alt. Er kann vielleicht noch bei der WM in zwei Jahren spielen und wenn es exzellent für ihn läuft, ist er auch noch bei der nächsten Europameisterschaft dabei. Aber dann?
Das Defizit in der Offensive hat sich auch deshalb so deutlich und schmerzhaft bemerkbar gemacht, weil Thomas Müller bei der EM als Torschütze komplett ausgefallen ist. Er hat der Mannschaft in der Defensive geholfen, aber noch mehr hätte er ihr mit Toren helfen können. Dass er bei nun zwei EM-Teilnahmen noch kein einziges Mal getroffen hat, ist einfach nur – komisch.
Stefan Hermanns