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Sieger-Selfie: Neymar nach dem Triumph von Rio
© AFP

Olympisches Fußball-Finale: Neymar ist der Held und doch in seiner Ehre gekränkt

Der Fußballer Neymar hat den Brasilianern doch noch magische Olympia-Momente geschenkt. Der Held selbst aber fühlt sich ungerecht behandelt.

Natürlich Neymar, wer denn sonst. Am Samstagabend  hat er früh einen Freistoß ins Tor gekickt und spät einen Elfmeter, beides war nicht ganz unwesentlich für die Olympischen Spiele im Allgemeinen und das Fußball-Finale im Besonderen. Wenn die Brasilianer in einer Blitzwahl hätten abstimmen können, wer bei der Abschlussfeier am Sonntag im Estadio do Maracana als Repräsentant der Nation auf der Tribüne sitzen sollte – am Samstagabend wäre die Wahl wahrscheinlich auf Neymar gefallen.

Der amtierende Präsident Michel Temer hatte sich bekanntlich verweigert, weil er Pfiffe seines von Korruption, Verschwendung und Missmanagement angewiderten Volkes fürchtete. Wer aber hätte schon gegen Neymar da Silva Santos Junior gepfiffen? Gegen den Mann, der Brasilien so glücklich gemacht hat, wie es selten während dieser seltsamen Spiele war. „Ich kann keine Worte dafür  finden, wie ich mich jetzt fühle“, sprach Neymar, nachdem er wieder sprechen konnte, eine gute Stunde, nachdem er im Elfmeterschießen den entscheidenden fünften Treffer  gesetzt hatte zum nach 120 Minuten plus Entscheidungsschießen akkumulierten 6:5 (1:0, 1:1)-Sieg über den neuen Angstgegner Deutschland.

Es war ein typischer Neymar-Elfmeter, theatralisch, kunstvoll und am Ende erfolgreich. Beim Anlauf ein kurzer Schwenk nach links, dann eine Verzögerung im Anlauf, Neymar stand fast, trippelte sich zentimeterweise nach vorn und hob im Stakkato die Knie. Deutschlands Torhüter Timo Horn flog nach links, aber Neymar schoss nach rechts. Noch bevor der Ball das Netz ausbeulte, sank der Schütze weinend zu Boden. Über ihm verfielen 80 000 Zuschauer in einen kollektiven Wahnsinn, und mutmaßlich überall zwischen Manaus im Urwald und Porto Alegre im Süden stiegen Raketen in die Luft.

Das olympische Fußballturnier gilt überall sonst auf der Welt als entbehrlicher Annex. Für die Brasilianer war es der Höhepunkt der Spiele von Rio. Olympiasieger!  Und dann auch noch mit einem Finalsieg gegen Deutschland, zwei Jahre nach Belo Horizonte, nach der Demütigung im Halbfinale der Weltmeisterschaft, für die bis in alle Ewigkeit die Ziffern 1 und 7 stehen werden. Jetzt ist Brasilien wieder da, jedenfalls ein bisschen, und das hat es  Neymar zu verdanken.

In der Tat war dieses Fußballfinale einer der emotionalen Höhepunkte der Spiele von Rio. So laut wie am Samstagabend war es während der Weltmeisterschaft vor zwei Jahren kein einziges Mal. Olympia lebt in Rio de Janeiro. Brasilien hat ein wenig irritiert auf die internationale Kritik an seinen Spielen reagiert, auf die Klagen über mangelnde Begeisterung, verbesserungswürdige Infrastruktur und Lücken im Sicherheitskonzept. Der Fußball hat alle Selbstzweifel am Samstag beseitigt. Brasilien berauschte sich an Neymar und vor allem an sich selbst.

Dass das Maracana einen ganz besonderen Abend erlebte, lag aber auch am Verlierer. An den Deutschen, die mit einer nominell nicht einmal zweitklassigen Mannschaft nach Rio gekommen waren, ganz dicht vor einer Sensation standen und die große Enttäuschung so grandios abhakten, als hätte der olympische Geist persönlich in der Kabine kondoliert. „Sehen Sie mich weinen?“, fragte der Trainer Horst Hrubesch ganz ungezwungen in die Runde. „Ich lache die ganze Zeit. Wir gehen hier als Gewinner raus,  auch ohne Gold, da muss ich nicht traurig sein. Auch die Spieler  sitzen schon wieder in der Kabine und lachen.“ Hrubeschs Fazit nach drei Wochen in Brasilien reduzierte sich auf einen einfachen und einprägsamen Satz, für den sich auch alle Brasilianer in ihn verliebten: „Olympia ist super!“

Der grazile Künstler Neymar und der kantige Trainer Horst Hrubesch waren auf ihre ganz persönliche Art die Hauptdarsteller des Abends von Maracana. Der eine stand für die Leidenschaft einer ganzen Nation und deren Rausch nach dem Sieg, der andere für die olympische Gelassenheit im Augenblick der Niederlage.

Ein episches Drama

Das Finale war gewiss nicht im Rang eines hochklassigen Fußballspiels und artete doch in ein episches Drama aus, von der Seitenwahl bis zu den Tränen nach dem Elfmeterschießen. Brasiliens Vorfreude  war so groß, dass die Zuschauer am Anfang sogar die olympiatypischen Pfiffe für den Gegner vergaßen.  Am Ende waren es die Kulisse im Maracana und Neymar, die den Unterschied machten. 

Die gelbgrüne Menschenmasse begeisterte sich immer wieder an der Kunst des brasilianischen Kapitäns, dessen Hang zur Theatralik keineswegs negativ gesehen wird.  Einmal wollte er Jeremy Toljan an der linken Eckfahne wie den tölpelhaften Gast bei einer Zirkusvorstellung ausspielen. Neymar klemmte sich den Ball zwischen beide Füße, schnipste ihn hinter seinem Rücken über den Kopf und wollte auf diese Weise an Toljan vorbeihüpfen. Das Publikum johlte, aber der Hoffenheimer Verteidiger hatte aufgepasst, er stellte seinen Oberkörper dazwischen und das war es dann auch schon.

Neymar kann aber auch richtig gut Fußball spielen. Vor allem seiner Kunst verdankten die Brasilianer jene kurze Drangperiode in der Mitte der ersten Halbzeit, in der die Deutschen ein wenig überfordert wirkten. In diese Phase fiel auch das Führungstor, inszeniert und vollendet vom Senhor mit der Nummer 10. Und das ging so: Am linken Strafraumeck konnte Matthias Ginter einen Sololauf Neymars nur auf Kosten eines Freistoßes stoppen. Neymar schritt selbst zur Exekution an. Es genügen vier Schritte Anlauf, dann zirkelte er den Ball mit dem  rechten Fuß ins linke obere Toreck. Deutschlands Torhüter Timo Horn flog spektakulär und gut, aber gegen diesen Kunststoß war er machtlos.

Das Maracana feierte Brasiliens Führung mit einer Lautstärke,  wie sie noch nie bei diesen lauten Spielen zu vernehmen war.  Die anschließenden Feierlichkeiten zogen sich über zwei Minuten hin. Brasilien war selig, auf den Tribünen und auch auf dem Rasen, wo die Spieler ihre kurze Zwischenoffensive sofort wieder einstellten. Wer führt, hat recht und musste sich im konkreten Fall nicht um das scheren, was  rund um das wunderschöne Führungstor herum so alles passiert war. Neymars 1:0 war eingebettet in gleich drei deutsche Lattenschüsse.  Julian Brandt mit einem Distanzschuss, Max Meyer mit einem abgefälschten Freistoß und Sven Bender per Kopf waren die Urheber, und da wurde es schon ein wenig ruhiger im Stadion. 

Die Deutschen durften den nachlassenden Geräuschpegel durchaus als Kompliment empfinden, und sie nutzten ihn als Stimulans. Sie brachten zunächst Ruhe in ihr Spiel, und als in der zweiten Halbzeit auch noch ein Hauch von Dominanz hinzukam, erinnerten sich die Zuschauer an das bei Olympia bewährte Mittel des Auspfeifens. Half alles nichts, der neue Angstgegner kam zurück, und wie! Nach einer schönen Stafette im Mittelfeld lief Toljan die rechte Seitenlinie  hinunter und passte in die Mitte, wo Meyer stand und den Ball hart, flach und platziert ins linke Eck schlug. Betreten schwieg das Maracana zum deutschen Jubel. Es war das erste Gegentor für die Brasilianer im olympischen Turnier.

In der Folge gestalteten die Brasilianer das Spiel wieder drückend überlegen, und es spielten sich tumultartige Szenen im deutschen Strafraum ab. Aber mit jeder Minute wuchs die Angst vor diesen verflixten Deutschen, die doch schon so gut wie besiegt waren. Als die Stadionregie zur Halbzeit der Verlängerung Neymars Gesicht auf die Videowand beamte, waren dort Zweifel und Leid abzulesen.

Die Zweifel vertrieb er mit seinem entscheidenden Elfmeter, es war Brasiliens fünfter und der erste nach dem Fehlversuch des Freiburgers Nils Petersen. Neymar schoss den Ball halbhoch nach rechts, ungefähr dorthin, wo auch Petersen hingezielt hatte, aber dessen Schuss hatten sich die Fäuste des brasilianischen Torhüters Weverton in den Weg gestellt. Neymar verlud Timo Horn, er sank zu Boden und jetzt kam auch das Leid dazu. Neymar schlug die Hände vor das Gesicht und weinte, alle paar Sekunden warf sich einer der Kollegen auf und über ihn, aber Neymar mochte nicht mehr aufstehen.  

Natürlich hat niemand Neymar nach dem Drama von Maracana gefragt, ob er denn  Brasilien bei der Schlussfeier vorstehen wolle. Dafür hat er sein Land überrascht mit der Ankündigung, dass er nicht mal mehr Brasiliens Nationalmannschaft als Kapitän anführen werde. „Das habe ich mit meiner Familie so besprochen und beschlossen“, sagte Neymar. Er hat nicht vergessen, wie ihn die Öffentlichkeit angefeindet hat nach dem missratenen Start in das olympische Turnier, wie die torlosen Unentschieden gegen Südafrika und Irak ausschließlich ihm angelastet wurden. Seine Tränen nach dem entscheidenden Elfmeter waren nicht nur Tränen der Freude.

Neymar da Silva Santos Junior mag nicht mehr an vorderster Front stehen, und Horst Hrubesch will es auch nicht mehr, allerdings ganz ohne Tränen. Eher beiläufig und fröhlich lächelnd erzählt er, das es mit 65 Jahren jetzt mal an der Zeit sei, die Jüngeren ranzulassen, „ich arbeite in dem Geschäft, seitdem ich 18 bin, jetzt werde ich keine Mannschaft mehr betreuen“.

Olympia hat an diesem Abend zwei Helden gewonnen und doch auch wieder verloren.

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