Bottas will seine Führung in der Formel 1 ausbauen: Mit Sisu aus dem Schatten
Der Mercedes-Pilot Valtteri Bottas liegt in der WM-Wertung vorne. Er ist kein Helfer von Lewis Hamilton mehr, sondern sein Gegner.
Es gibt nicht viele Menschen, die es haben können. Etwa 5,5 Millionen sind es weltweit, alle kommen sie aus Finnland, weil Sisu eben nur etwas für Finnen ist. Sisu, Sauna, Sibelius – mehr braucht es angeblich nicht für das finnische Selbstverständnis. Der Formel-1-Fahrer Valtteri Bottas bildet diesbezüglich keine Ausnahme.
Er schätzt Jean Sibelius, den einst so genialen finnischen Komponisten, geht gerne in die Sauna – und Sisu soll der 29-jährige Bottas besonders viel besitzen. Der Begriff steht für Nervenstärke und Kraft, für Ausdauer und Mentalität. So ganz genau sagen lässt sich das aber nicht, eine direkte Übersetzung existiert nicht. Sisu ist eben eine rein finnische Angelegenheit.
Vor dem fünften Saisonrennen in Barcelona (Sonntag, 15.10 Uhr, live bei RTL), dem ersten in diesem Jahr in Europa, steht jedenfalls fest, dass Bottas momentan so sehr von Sisu besessen ist wie von seinem neuen Bart. Er hat zwei der vier Saisonrennen gewonnen und landete die beiden anderen Male auf Platz zwei.
Mit 87 gesammelten Punkten führt er die WM-Wertung mit einem Punkt vor Lewis Hamilton an. Vor jenem Hamilton, der schon fünfmal Weltmeister geworden ist und eigentlich als der deutlich bessere Fahrer gilt. Während der Brite im vergangenen Jahr elf Rennen gewann, siegte Bottas so oft wie Stoffel Vandoorne, Pierre Gasly oder Kevin Magnussen – nämlich gar nicht.
Bottas nahm die Rolle als Helfer ohne Beschwerden an
„Ich habe immer das Gefühl, nicht gut genug zu sein und dass da immer noch etwas fehlt, was ich ergänzen muss“, sagte Bottas im Juli des vergangenen Jahres in einem Interview mit der „Welt“. Lediglich Fünfter wurde er letztlich in der Gesamtwertung – mit 161 Punkten Rückstand auf Hamilton. 15 von 21 Duellen in der Qualifikation verlor er gegen den Briten, obwohl beide über dasselbe Material verfügten.
Schon der Saisonstart missriet damals, als Bottas im dritten und vierten Rennen durch unglückliche Umstände jeweils den Sieg verpasste. Einmal etwa platzte ihm der Reifen. Bottas rutschte früher als ihm lieb sein konnte in die Rolle des Wingman, wie es in der Formel 1 heißt. Als perfekten Wingman bezeichnete ihn Mercedes’ Motorsport-Chef Toto Wolff gar, weil Bottas die eigenen Ambitionen opferte, um Hamilton im Titelkampf zu unterstützen. Es war eine Rolle, die Bottas nach außen hin klaglos annahm.
Erst das Team, dann das Ego: In einer von Eigeninteressen geleiteten Branche wie der Formel 1 war das ein bemerkenswerter Zug, aber auch einer, der Spuren hinterließ. „Für mich war es mental eine sehr kräftezehrende Saison. Ich hatte große Ziele, was die Resultate für dieses Jahr anging. Aber diese Saison ist nicht so verlaufen, wie ich es mir vorgestellt hatte. Somit bin ich ehrlich gesagt ganz froh, dass sie vorbei ist“, sagte der Finne nach dem Saisonende, als die Kräfteverhältnisse längst geklärt waren.
Als angenehm, fokussiert und ruhig im Wesen beschreibt ihn ein hoher Motorsport-Funktionär, der Bottas’ Aufstieg aus den tieferen Rennklassen mitverfolgt hat, bevor er 2013 für Williams sein Debüt in der Formel 1 feierte. Die Performance stimmte. 2017 holte ihn Mercedes in seine Reihen. Bottas sollte den zurückgetretenen Weltmeister Nico Rosberg ersetzen und zugleich die Stimmung im Team verbessern, nachdem zwischen Rosberg und Hamilton häufiger Krieg als Frieden geherrscht hatte. Friedlicher wurde es tatsächlich bei Mercedes – weil Bottas mit Hamiltons Tempo selten mitkam.
Mercedes hat plötzlich zwei Kandidaten für den WM-Sieg
In dieser Saison scheint nun vieles anders. Der freundliche Assistent hat binnen eines Winters, den er unter anderem mit seiner Frau in Südamerika verbrachte, das fehlende Teilchen offenbar gefunden. „Es ist im Moment ein guter Kampf mit Lewis“, sagte Bottas am Donnerstag. „Mein Selbstvertrauen ist intakt. Ich möchte einfach nur so weitermachen.“ Nicht nur er weiß, dass Mercedes plötzlich zwei ernsthafte Titelkandidaten hat. Das zeigte auch das Qualifying in Barcelona. Bottas holte sich die Pole Position, Lewis Hamilton landete knapp dahinter.
„Bottas ist vor dem Start der Europasaison am Wochenende nicht durch Zufall Tabellen-Spitzenreiter“, erklärt Norbert Haug, Mercedes’ früherer Motorsport-Chef. „Ganz offensichtlich kommt er mit seinem Team und Fahrzeug bestens zurecht und hat sich im Vergleich zum letzten Jahr ganz deutlich gesteigert.“ Worauf solche Steigerungen basieren, ist häufig schwer zu erklären. Meist machen Kleinigkeiten den Unterschied aus. In den Vorjahren habe Bottas vor der Saisoneröffnung mit kleineren Krankheiten gekämpft, das sei nun nicht der Fall gewesen, sagt ein Mitarbeiter von Mercedes. Die Vorbereitung sei insgesamt sehr stringent verlaufen, Bottas wolle nicht mehr in die Helferrolle rutschen müssen.
Auf dem Circuit de Catalunya in Barcelona peilt der einstige Wingman seinen dritten Saisonsieg an. Die Strecke in Katalonien ist keine mit besonders ausgeprägtem Profil, sie gilt eher als Allerweltskurs. Autos, die in Barcelona gut funktionieren, funktionieren überall, heißt es. Ähnliches gilt wohl auch für Fahrer, in den vergangenen beiden Jahre siegte Hamilton – und wurde anschließend auch Weltmeister. „Einen Titel zu gewinnen, dafür reichen nicht nur ein paar Siege. Wir waren zuletzt eher auf den kühleren Strecken. Mal sehen, wie sich Valtteri schlägt, wenn es heißer wird“, sagte Hamilton am Donnerstag. Die kleine Spitze des fünfmaligen Weltmeisters ist ein Hinweis darauf, dass der Sisu-Speicher von Valtteri Bottas derzeit gut gefüllt ist.