Handball-Nationalmannschaft: Mit allen Geschützen am Abgrund
Bei den WM-Play-offs gegen Polen steht ab Sonnabend die Zukunft des deutschen Männer-Handballs auf dem Spiel. Zumindest aber wohl die Zukunft des deutschen Bundestrainers Martin Heuberger.
Schon die Wahl des Austragungsortes sagt eigentlich alles über dieses Spiel und seine Bedeutung. Beim Deutschen Handball-Bund (DHB) haben sie sich bewusst für Magdeburg entschieden, weil Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt einen ähnlichen Status genießt wie Dortmund bis zur WM 2006 für den Deutschen Fußball-Bund. Die Magdeburger Arena ist eine Art letzte Festung, in der eine deutsche Nationalmannschaft gefälligst nicht zu verlieren hat. „Das Publikum ist so enthusiastisch, das geht fast schon ins Fanatische“, sagt DHB-Präsident Bernhard Bauer. Für das Rückspiel gegen Polen in der WM-Qualifikation waren die 7000 Karten innerhalb weniger Stunden unters Volk gebracht. „Und wir werden das Publikum brauchen“, sagt Bauer.
Am 14. Juni steht der größte Handball- Verband der Welt und sein Männerteam zum zweiten Mal binnen einer Woche im Blickpunkt des Interesses, der Medienauflauf wird gemessen am üblichen Interesse gewaltig sein. Am Sonnabend geht es zum Hinspiel nach Danzig, sieben Tage später geht es für das Team von Bundestrainer Martin Heuberger um alles oder nichts. Gelingt die Qualifikation für die WM 2015 in Katar oder verpasst die DHB-Auswahl nach Olympia 2012 und der Europameisterschaft 2014 das dritte große Turnier unter Heubergers Verantwortung? Und was hieße das für den urdeutschen Sport, der sich der überragenden Bedeutung des Nationalteams ja bewusst ist?
Nach Polen-Spiel folgt für Heuberger das Perspektivgespräch
„Selbst wenn die Spiele verloren gehen, wird danach immer noch Handball gespielt“, sagt Bernhard Bauer. Ob Heuberger in diesem Fall noch vermittelbar ist, darf aber zumindest bezweifelt werden. Nach den Qualifikationsspielen gegen Polen will Bauer „unabhängig vom Ausgang“ ein Perspektivgespräch mit dem Bundestrainer führen. Heuberger will über die Zeit danach am liebsten gar nicht reden. „Ich bin im Moment nur auf Polen fokussiert“, sagt der Bundestrainer.
Dass ihm der Ernst der Lage bewusst ist, lässt sich auch an Heubergers personellen Entscheidungen erkennen. Bislang hat der langjährige Co-Trainer Heiner Brands die Nationalmannschaft recht beständig verjüngt, unter seiner Verantwortung gab es zahlreiche Debütanten. Vor den Qualifikationsspielen nun fährt Heuberger alle denkbaren Geschütze auf: So wurden unter anderem Johannes Bitter und Michael Kraus reaktiviert, auch Oliver Roggisch steht gegen Polen im Kader – dabei hat der gerade seine Karriere beendet und in der Bundesliga-Saison fast gar nicht gespielt. „Jogi Bitter ist einer der weltbesten Torhüter, seine Persönlichkeit wird uns positive Impulse geben. Letzteres gilt natürlich auch für unseren langjährigen Abwehrchef Olli Roggisch.“ Und Kraus, das schlampige Genie, das ein Spiel in jede Richtung entscheiden kann? „Mimi hat große individuelle Fähigkeiten“, sagt Heuberger, „wenn er in der Lage ist, sie auf die Platte zu bringen, hilft er jedem Team.“
Kraus’ Leistung wird entscheidend sein, auf seiner Position hatten die Deutschen in den letzten Jahren arge Probleme: Nach dem Karriereende ganz großer Namen wie Daniel Stephan oder Markus Baur entstand auf der Rückraum-Mitte eine ungeahnte Vakanz, wie überhaupt auf vielen Positionen nach dem WM-Titel im eigenen Land vor sieben Jahren. „Man muss sich immer die Frage stellen: Wann laufen welche Spieler aus, und wann muss ich für welchen Nachwuchs sorgen?“, sagt Bob Hanning, der Vizepräsident Leistungssport beim DHB. „Das haben wir nicht getan.“
Die Jungen spielen nicht – deshalb muss Heuberger auf Veteranen setzen
Immerhin ist das Problem erkannt, Gegenmaßnahmen sind eingeleitet. Die sogenannte Eliteausbildung läuft mittlerweile, Landesstützpunkte sind errichtet worden, und in der Handball-Bundesliga hat die Quote einheimischer Spieler in den letzten Jahren auch wieder zugenommen. Dummerweise konnten sich bisher die wenigsten von ihnen auf internationalem Niveau bewähren. Auch deshalb muss Heuberger noch auf Veteranen setzen.
Zur Verteidigung des Bundestrainers, der heute seinen 50. Geburtstag feiert, ist zudem zu sagen, dass seinem Team mit Polen der denkbar schwerste Gegner für die WM-Qualifikation zugelost wurde. Nach der peinlichen Nicht- Qualifikation zur letzten EM kam jetzt auch noch Lospech dazu. Heuberger selbst will das nicht als Ausrede gelten lassen, überhaupt will er nicht weinerlich erscheinen in der wohl schwierigsten Situation seiner Karriere. Heuberger sagt: „Polen und Deutschland sind zwei Länder, die vom eigenen Anspruch dabei sein müssen bei einer WM.“
Wer die WM verpasst, dem drohen in jedem Fall unangenehme Ehrenrunden in der nächsten EM-Qualifikation. Darüber hinaus rückt die Teilnahme an den nächsten Olympischen Spielen in immer weitere Ferne. Sollten Heuberger und sein Team nicht zur WM fahren, müssten sie 2016 Europameister werden, um doch noch nach Rio de Janeiro reisen zu dürfen. Oder aber der Weltverband IHF kommt mal wieder auf eigenartige Ideen, wie in der vergangenen Woche. Da berichtete das Fachmagazin „Handball Time“, die IHF plane die Einführung von Freikarten für die Olympia-Qualifikation. Präsident Hassan Moustafa begründete die Idee von Wildcards mit der Degradierung des Handballs innerhalb der olympischen Sommersportarten. „Der Handball ist im letzten Ranking nur deshalb heruntergestuft worden, weil die TV-Quoten aus Deutschland fehlten“, sagte der Ägypter. Das klingt fast schon nach Mitleid.