Manuel Neuer im Interview: "Mein Spiel ist in England nicht sehr gefragt"
Manuel Neuer über englische Torhüter, seinen 30. Geburtstag und die Aussicht, die Nationalmannschaft bei der EM in Frankreich als Kapitän anzuführen.
Herr Neuer, es ist so weit: Sie werden am Sonntag 30!
Ach so.
Ach so? Macht das nichts mit Ihnen?
Nicht viel, du hast ja jedes Jahr Geburtstag. 30 ist auch nur eine Zahl. Ich habe keine Angst vor der drei vorne. Als Feldspieler wäre das vielleicht anders. Aber ich fühle mich jung, ich stehe jetzt voll im Saft und denke gar nicht daran, dass die Karriere so langsam dem Ende entgegen gehen könnte.
Als Torwart darf man ja auch älter sein. Gianluigi Buffon ist 38.
Aber der ist auch eine Ausnahme. Gigi ist immer noch Weltklasse. Jens Lehmann hat auch lange gespielt, aber ich will gar nicht so viel übers Alter reden.
Weil Sie einen Schreck bekommen, wie lange Sie schon dabei sind?
Das ist doch schön, dass ich so viele Erfahrungen sammeln konnte, dass ich schon als sehr junger Spieler als Profi zwischen den Pfosten stand.
Und die besten Jahre kommen erst noch.
Schau’n wir mal.
Kennen Sie eigentlich einen richtig guten englischen Torwart?
Ich finde Joe Hart gut. Er spielt mit Manchester City regelmäßig in der Champions League, ist in Eins-gegen-eins-Situationen sehr stark und hat eine gute Ausstrahlung. In England wird der Torwart oft auch bei Standardsituationen gedeckt, da ist Hart sehr robust und präsent. Ich würde das auch nicht verallgemeinern, nach dem Motto: Die Engländer haben generell keine gute Torhüter. Es gab natürlich einige unglückliche Situationen in der englischen Fußball-Historie, aber es ist nicht alles schlecht gewesen.
Es ist aber ein bisschen Mode, sich über englische Torhüter lustig zu machen.
Wir Profis machen das nicht, das ist eher was für die Medien.
Trotzdem heißt es immer: Alle talentierten deutschen Torhüter, die momentan nicht an Ihnen vorbeikommen, wären in England vermutlich die Nummer eins.
Das liegt daran, dass wir in Deutschland sehr gute Ausbilder haben. Schon in den Nachwuchsteams verrichten die Torwarttrainer sehr gute Arbeit. Wir haben auch in den U-Mannschaften beim DFB Leute, die ihren Job sehr gut verstehen, sodass immer wieder gute Torhüter nachkommen.
Warum kopieren andere Nationen das nicht, wenn es offensichtlich erfolgreich ist?
Es ist halt die Frage, was man von einem Torwart erwartet. In der Premier League wird ein anderer Fußball gespielt. Da ist es nicht gefragt, dass ein Torwart mit beiden Füßen gleich stark ist, damit er das Aufbauspiel von hinten betreiben kann. Viele Teams in England operieren mit langen Bällen. Den langen Schlag beherrschen da alle Torhüter, aber du brauchst keinen Torwart, der so eine Art Spiel pflegt wie wir in der Bundesliga. In Deutschland haben die Torleute traditionell eine besondere Rolle. Das gehört zu unserer Fußballgeschichte.
Und Ihretwegen wollen kleine Jungs heute erst recht Torwart werden.
Kommt drauf an, auf welchem Platz sie spielen (lacht). Als kleiner Junge bin ich früher gar nicht gern ins Tor gegangen. In meiner Nachbarschaft gab es keine tollen Rasenplätze mit schönen Toren. Da hast du auch mal auf Beton, auf Asche oder Schlacke gespielt. Und sich da ins Tor zu stellen und zu schmeißen – da wusste jeder, was ihn erwartet, wenn er nach Hause kommt. Mich hat mein erster Trainer bei Schalke ins Tor gesteckt. Da hieß es: „Du bist neu, also zieh die Handschuhe an und geh rein!“ Das habe ich wohl ganz ordentlich gemacht. Der Trainer hat mich jedenfalls nicht mehr rausgelassen.
Manuel Neuer über Konkurrenzkampf im deutschen Tor und ungelernte Verteidiger
Sie haben es so ordentlich gemacht, dass Sie heute unwidersprochen als bester Torhüter der Welt gelten. Finden Sie das eigentlich auch?
Nee, darüber spreche ich grundsätzlich nicht. Ich bin sehr ehrgeizig und arbeite an allen Sachen, die das Torwartspiel mit sich bringt. Ich versuche mich stets zu verbessern.
Einen echten Konkurrenzkampf unter den Torhütern gibt es allerdings nicht mehr. Was treibt Sie an?
Wichtig ist, dass man hungrig bleibt und sich nicht auf dem ausruht, was man gewonnen hat, nach dem Motto: Okay, dann schnürst du dir die Schuhe zu, gehst raus und spielst mal ein bisschen. Das ist nicht mein Stil, und so verstehe ich meinen Job auch nicht. Ich werde immer viel dafür tun, neue Ziele zu erreichen. Deshalb finde ich es gut, dass wir für die beiden Länderspiele sogar drei weitere Torhüter dabei haben. Wir sind zu viert, können gutes Torwarttraining machen. Jeder sieht, wie die anderen ihre Übungen machen. Da schaut man schon: Wie verstehen sie das Spiel, welche Schrittfolgen haben sie?
Gucken Sie sich auch konkret etwas ab?
Ich bin offen für Neues. Alles entwickelt sich weiter. Die Frage ist nur, in welche Richtung es geht. Dinge, die ich bei einem anderen Torwart gesehen habe, probiere ich auch mal für mich aus. Entscheidend ist, ob sie einen weiterbringen oder nicht und wie man sich dabei fühlt. Torwartsein hat viel mit Gefühl zu tun.
Machen Sie eigentlich Augentraining?
Einen Augentest habe ich tatsächlich mal gemacht. Da war ich noch bei Schalke. Aber ein Augenarzt hat mir mal erzählt, er habe Stürmer untersucht, die eine richtige Sehschwäche hatten und trotzdem extrem viele Tore geschossen haben. Die wollten partout keine Kontaktlinsen tragen. Womöglich waren sie einfach davon überzeugt, sich gut zu fühlen auf dem Platz, keine Ahnung.
Und das im verwissenschaftlichten Fußball!
Wenn ich Trainer wäre, müsste ein neuer Spieler nicht nur zum MRT, sondern auch zum Augenarzt. Wir haben das beim FC Bayern erst Anfang des Jahres gemacht. Habe übrigens gut abgeschnitten.
Wäre ja noch schöner für einen Welt-Torhüter …
Sie werden lachen, für einen Torwart ist das Antizipationsvermögen fast wichtiger, als dass er den Ball jetzt schärfer kommen sieht. Es heißt ja auch so schön: Was man nicht sieht, kann man nicht halten. Gerade wenn man jetzt 30 wird (lacht).
Bei der WM 2014 haben Sie hinter einer Abwehrkette aus vier Innenverteidigern gespielt. Beim FC Bayern haben Sie keinen einzigen gelernten Verteidiger vor sich. Was ist besser?
Da gibt es schon Unterschiede. Aber wir spielen beim FC Bayern auch einen anderen Fußball als mit der Nationalmannschaft. Und man muss sagen, dass beides aus der Not geboren war. Bei den Bayern haben sich viele Innenverteidiger verletzt, bei der WM war es so, dass wir nicht so viele gelernte Außenverteidiger zur Verfügung hatten. Beide Mannschaften haben ihre jeweilige Situation gut angenommen, sich darauf eingelassen und es ganz ordentlich gemacht.
Müssen Sie mehr oder lauter reden?
Grundsätzlich passe ich mein Spiel den Umständen an. Wenn die Kette hoch verteidigt und weit weg steht von mir, schiebe ich mich vor, versuche Kontakt zu halten und will auch einschreiten können, damit die Wege zurück für meine Mannschaft nicht zu weit werden. Es macht ja keinen Sinn, wenn die Mannschaft 40 Meter zurücklaufen muss, nur weil ihr Torwart hinten auf der Linie klebt. Wenn die Mannschaft näher bei mir am Strafraum steht, kann ich verbal mehr eingreifen, kann mehr helfen und die Innenverteidiger ansprechen oder den Sechser, den ich mit meiner Stimme noch erreiche.
Manuel Neuer über die Verletzung von Bastian Schweinsteiger und das viele englische Geld
Sie müssen ja auch gut zu hören sein, falls Sie bei der EM den verletzten Bastian Schweinsteiger als Kapitän vertreten.
Erstens entscheidet das der Bundestrainer, und zweitens sind es ja noch ein paar Wochen. Vor der WM in Brasilien war es bei mir auch lange fraglich, ob ich meine Schulterverletzung rechtzeitig auskuriere und schon zum Turnierstart fit bin.
Wie sehr trifft das Team Schweinsteigers Verletzung?
Es ist ärgerlich, dass unser Kapitän jetzt wieder ausfällt. Er war gerade dabei, in die Gänge zu kommen. Wenn eine alte Verletzung wieder aufbricht, ist es doppelt blöd. Das zerrt an den Nerven, bei Basti besonders. Zumal er jetzt zwei wichtige Spiele im Hinblick auf die EM verpasst. England und Italien sind potenzielle Gegner für die K.-o.-Spiele in Frankreich.
Worin liegt für Sie der Reiz des Duells mit England?
Die Rivalität hat Tradition, beide Länder sind klassische Fußballnationen. Und wir haben in den letzten Jahren gezeigt, dass die Bundesliga mindestens ebenbürtig ist mit der Premier League. Ich hoffe man sieht im Olympiastadion, wie sich der deutsche Fußball entwickelt hat.
In England wird es bald noch mehr Geld zu verdienen geben. Juckt es Sie nicht?
Für manche Spieler mag es ein Anreiz sein, nach England zu gehen, um mehr Geld zu verdienen. Aber man sollte auch wissen, dass man sich auf ein anderes Leben einstellen muss. Mir gefällt die Bundesliga sehr gut. Wir haben in den vergangenen fünf bis zehn Jahren große Schritte gemacht. Ich mag den deutschen Fußball, die Art und Weise, wie hier gespielt wird und dass darin auch meine Spielweise zur Geltung kommt. Ich bin ein Torhüter, der immer anspielbereit ist, der gern im Aufbauspiel dabei ist. In England nennt man das Sweeper Keeper, mitspielender Torwart. Ich glaube, dass das dort nicht sehr gefragt ist.
Wenn wir Sie richtig verstehen, würden Sie gerne beweisen, dass auch das viele englische Geld geschlagen werden kann.
Die Situation ist ja nicht ganz neu. Die Engländer hatten schon immer größere Möglichkeiten auf dem Transfermarkt. Jetzt werden die Zahlen vielleicht noch mal ein bisschen größer, aber Klubs wie Dortmund oder wir brauchen sich vor niemandem zu verstecken. Die deutschen Klubs sind zuletzt in der Champions League immer weitergekommen als die englischen. Die Engländer werden jetzt nicht allein des Geldes wegen automatisch das Halbfinale der Champions League erreichen.
Haben Sie keine Angst, dass es mit den Bayern zu Ende geht? Bei der WM 2014 hat der Klub mit sieben Spielern den größten Block gestellt. Aktuell sind es nur drei.
Sicher nicht. Jerome Boateng ist verletzt, Philipp Lahm hat aufgehört, Toni Kroos und Bastian Schweinsteiger haben den Verein verlassen. Und warten wir mal ab, wer bis zur EM noch dazukommt. Vielleicht David Alaba!
Der ist doch Österreicher!
(Lacht.) Bei David könnte man als Fan aber denken, dass er einer von uns ist, oder?
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