Selbstversuch: Mein paralympischer Dreikampf
Wie wirft man im Sitzen? Wie schieße ich ein Tor, ohne es zu sehen? Wie ramme ich einen Rollstuhl? Tagesspiegel-Redakteur Lars Spannagel unternimmt drei sportliche Selbstversuche.
Der Ball ist erst einmal völlig egal. Es geht nur darum, überhaupt vom Fleck zu kommen. Ich setze mich vorsichtig in Bewegung – aber wie soll ich eine Kurve fahren? Oder bremsen? Und dann auch noch einen Basketball dribbeln, passen und werfen?
Für meinen ersten Selbstversuch bin ich in eine Seitenhalle der Max-Schmeling-Halle gekommen, die Rollstuhlbasketballer von Alba Berlin lassen mich beim Training mitmachen. Ich drehe ein paar vorsichtige Runden über das Parkett, Trainer Red Frister gibt mir Anweisungen: Schwung geben mit der ganzen Hand und nicht nur mit den Fingerspitzen, zwischendurch immer wieder aufrichten und nicht wie ein Schluck Wasser im Stuhl hängen, Kurven aus der Hüfte fahren. Ich gebe mir Mühe – und mache tatsächlich Fortschritte. Der Rollstuhl macht irgendwann das, was ich von ihm will. Einigermaßen.
Vorher habe ich großspurig behauptet, dass der Basketball-Teil des Selbstversuchs kein Problem sein sollte. Schließlich spiele ich seit mehr als 20 Jahren im Verein und trainiere regelmäßig. Aber als Fußgänger bin ich 1,94 Meter groß – vom Rollstuhl aus gesehen scheint der Korb doch um einiges höher zu hängen. Tut er nicht, auch Rollstuhlbasketball wird auf ein Ziel in 3,05 Meter Höhe gespielt. Aus kurzer Distanz sitzen meine Würfe trotzdem, ab der Freiwurflinie allerdings wuchte ich den Ball nur noch wie ein Kugelstoßer in Richtung Korb, für eine saubere Technik fehlt mir im Sitzen einfach die Kraft und der Schwung aus den Beinen.
Wer nicht aufpasst, wird mit dem Rollstuhl eingeparkt
Als Coach Red ein Spiel „Zwei gegen Zwei“ vorschlägt, bin ich überrascht – jetzt schon? Nach einer Dreiviertelstunde? Aber meine Mitspielerin Anna sagt mir, wo ich hinfahren und wie ich mich zum Ball positionieren soll. Ich versuche, ihren Anweisungen so gut es geht zu folgen – schließlich will ich mich vor der Nationalspielerin nicht blamieren. Natürlich kann ich fahrerisch nicht mithalten, dafür habe ich die grundlegenden taktischen Elemente schnell verstanden: Blöcke stellen, abrollen, zum Korb schneiden, sich eine Position erarbeiten – alles wie beim Fußgänger-Basketball. Es kommt aber noch mehr auf Teamwork an, weil man sich im Spiel „Eins gegen Eins“ kaum einen Vorteil erarbeiten kann. Ich als Anfänger schon gar nicht.
Und wenn man nicht aufpasst, kann man mit dem Rollstuhl regelrecht eingeparkt werden: Wenn es die Gegner geschickt anstellen, hat man keine Chance mehr, vorbeizukommen. „Manchmal ist das ein bisschen wie Autoscooter“, erklärt mir mein Gegenspieler. Ich schlage mich insgesamt aber erstaunlich gut und erhalte am Ende sogar die Einladung, wieder mal vorbeizukommen: „Große Leute, die werfen können, brauchen wir immer.“
Nach dem Training schnalle ich mich los und klettere vorsichtig aus dem Rollstuhl, meine Hände sind schwarz vom abgeriebenen Dreck des Hallenbodens und der Reifen. Trainer Red prophezeit mir für den nächsten Tag Schmerzen in den Beinen, die man als Fußgänger im Rollstuhl für gewöhnlich verkrampft. Der Muskelkater kommt aber erst zwei Tage später, und nicht in den Beinen, sondern im Nacken und in den Schultern. Dort aber richtig.
Wie Skywalker beim Lichtschwert-Training für Anfänger
Der zweite Selbstversuch beginnt mit einem Frontalzusammenstoß. Ich trabe über einen kleinen Kunstrasenplatz am Stadion Lichterfelde, meine Augen sind mit einer Stoffbrille verbunden: Ich will mich im Blindenfußball versuchen. „Achtung, gleich kommt die Bande“, sagt Lars, der neben mir läuft und jede Woche hier trainiert. Ich strecke die Arme nach vorne wie ein Schlafwandler – leider ist die Bande viel niedriger als gedacht. Ich stoße mit den Oberschenkeln dagegen, klappe in der Körpermitte zusammen und knalle mit Stirn und Schmackes gegen den Metallzaun, der kurz hinter der Bande steht. Auch der Kopfschutz aus Styropor hilft nicht wirklich dabei, die Kollision abzufedern.
Nicht gerade der perfekte Start, um Vertrauen in das Konzept zu fassen, Fußball zu spielen, ohne etwas sehen zu können.
Nach dem Crash versuche ich mich lieber erst einmal als Standfußballer – und komme mir vor wie Luke Skywalker beim Lichtschwert-Training für Anfänger: „Mit dem Schutzvisier runter kann ich nicht mal sehen, wie soll ich da kämpfen?“
Wenigstens kann ich den Ball hören, das Spielgerät beim Blindenfußball gibt beim Rollen ein rasselndes Geräusch von sich. Wenn man konzentriert lauscht und seine Füße wie einen V-förmigen Trichter in Richtung des Rasselns stellt, hat man gute Chancen, den Ball zu stoppen. Dann kann man theoretisch losdribbeln, dabei ist enge Ballführung und viel Gefühl im Fuß gefragt – also leider genau jene Eigenschaften, die mir als Fußballer schon immer gefehlt haben.
Liegt es am Muskelkater? Oder doch am Rollstuhl?
In der Verteidigung bin ich als Störer und Stocherer besser aufgehoben. Wir spielen „Zwei gegen Zwei“, der Torwart ist der einzige Sehende auf dem Platz und gibt mir Anweisungen: „Du bist fünf Meter vor dem Tor! Mehr nach rechts! Er will an der Bande an dir vorbei!“ Ich selbst muss als Verteidiger immer wieder durch den Ruf „Voy!“ (Spanisch für „Ich komme!“) auf mich aufmerksam machen. So richtig wohl fühle ich mich auf dem Platz nicht: Es erfordert große Konzentration, nach dem Ball zu lauschen, seine Bahn zu erahnen und sich auf plötzlichen Körperkontakt einzulassen, ohne etwas zu sehen.
Mein Gegenspieler ist Kandidat für die deutsche Nationalmannschaft und hat einen ziemlich harten Schuss – zumindest hört es sich so an, wenn die Bälle an mir vorbeipfeifen und hinter mir an der Bande oder im Tor einschlagen.
Wir müssen das Spiel mehrmals unterbrechen, weil ein Hubschrauber auf dem Weg zum benachbarten Benjamin-Franklin-Klinikum im Tiefflug über den Platz knattert – und man den Ball einfach nicht mehr hören kann. In diesen Momenten widerstehe ich der Versuchung, meine Brille zu lupfen und mich umzusehen.
Lieber konzentriert bleiben.
Liegt es am Muskelkater? Oder doch am Rollstuhl? Mein dritter Selbstversuch beginnt schwerfällig, beim Rollstuhlrugby komme ich zunächst nur schwer voran. Allerdings ist mein Fortbewegungsmittel dieses Mal auch ganz anders als zuvor beim Basketball – sie sind schließlich auch dafür konstruiert, zu rammen und gerammt zu werden. Einige Rollstühle sind sogar mit richtigen Rammspornen – sogenannten Bumpern – ausgerüstet. Meiner nicht, dafür ist er zerkratzt und zerbeult. Langsam verstehe ich, wieso das Spiel nach seiner Erfindung in Kanada zunächst den Namen „Murderball“ trug.
Klug taktieren und beherzt blocken
Ich darf bei den Berlin Raptors mittrainieren, das Team ist gerade erst Deutscher Meister geworden. Zum Aufwärmen fahren wir große Achten und werfen uns dabei das Spielgerät zu, eine Art Volleyball. Aufs entspannte Kringeldrehen folgt der brachiale Vollkontakt: Auf den Gegner zufahren, rammen, den Pass verhindern. Die ersten Zusammenstöße schütteln mich noch durch, jede Kollision hebt den Rollstuhl ein paar Zentimeter vom Boden und mich aus dem Sitz. Ich stelle aber fest, dass mir eigentlich nichts passieren kann. Meine Beine sind geschützt, ich kann nicht umkippen – und die Sache fängt an, Spaß zu machen.
Rollstuhlrugby wurde speziell für Querschnittgelähmte entwickelt, die an mindestens drei Gliedmaßen eingeschränkt sind, also auch eingeschränkte Arm- und Handfunktionen haben. Deswegen geht es bei der Sportart weniger ums Passen als ums kluge Taktieren und beherzte Blocken. Wir spielen „Vier gegen Vier“, ich soll mich als Anspielstation anbieten und dann losfahren. Leider komme ich meistens nicht besonders weit, weil sich mir mindestens ein Gegenspieler entgegenstellt.
Die taktischen Feinheiten sind noch viel zu hoch für mich. Und meine Erfahrungen als Basketballer schaden mir diesmal eher: Anstatt in der Verteidigung diszipliniert und stur bei meinem Gegenspieler zu bleiben, orientiere ich mich in Richtung des Balls. Den Block von hinten sehe ich deswegen nicht kommen, das gegnerische Team umkurvt mich gekonnt und rollt in die Endzone.
Anfängerfehler werden eben bestraft.
Zum Tag ohne Grenzen (5./6. Juni 2015, Rathausmarkt Hamburg) veröffentlicht der Tagesspiegel am 4. Juni eine Sonderausgabe der Paralympics Zeitung. Darin lesen Sie unter anderem einen Praxistest, wie behindertenfreundlich Hamburg ist und wie sich die Stadt auf die Paralympics vorbereitet, was von den Paralympics in Rio de Janeiro zu erwarten ist und wie sich Sportler darauf vorbereiten.