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Am Ball nicht zu stoppen. Karl-Heinz Rummenigge 1982 im Länderspiel gegen Österreich.
© dpa

Tagesspiegel-Wahl: Bester Außenspieler links: Mein Bruder, der Weltstar Karl-Heinz Rummenigge

Unsere Jury hat Karl-Heinz Rummenigge zum besten linken Außenbahnspieler der Bundesliga-Geschichte gewählt. Mit 17 verließ er Lippstadt und wurde zum Weltstar. Doch der Anfang war schwer, erzählt sein Bruder.

Ich habe 309 Bundesligaspiele gemacht, zu mir sagen häufiger einmal Leute: Du warst doch auch ein guter Spieler. Dann sage ich: Ja, ich war nicht schlecht. Aber mein Bruder, der war Weltklasse. Er war der beste Stürmer seiner Zeit. In den achtziger Jahren haben zwei Spieler den Weltfußball geprägt: Diego Maradona und Karl-Heinz Rummenigge.

Ich habe heute eine Fußballschule, und um den Kindern zu erklären, welchen Stellenwert mein Bruder damals hatte, nenne ich den Namen Cristiano Ronaldo. So wie der heute, so war mein Bruder damals. Dann ist das Staunen groß. Er war 1980 und 1981 Europas Fußballer des Jahres, das war damals so etwas wie der inoffizielle Weltfußballer. Dass jetzt Jupp Heynckes in der Jury meinen Bruder vor sich selbst setzt, sagt zwei Dinge: Der Jupp ist bescheiden. Und mein Bruder war wirklich gut.

Das war er schon immer. Wir sind in einem Neubaugebiet in Lippstadt aufgewachsen. Unser Vater war Werkzeugmachermeister in Soest, er ist jeden Morgen um 5.15 Uhr zur Arbeit aufgestanden, unsere Mutter war Hausfrau, sie ist auch für uns putzen gegangen. Wir hatten fast nichts außer Fußball: kein Telefon, nur drei Fernsehprogramme, sonntags die Kirche. Wir waren stundenlang auf der Straße und haben gegen italienische Einwanderer gekickt oder gegen Engländer aus der benachbarten Kaserne. Zum Fußballplatz waren es zwei, drei Kilometer mit dem Fahrrad, der wurde dann unser zweites Zuhause.

Mit 17 war mein Bruder schon eine Berühmtheit auf Kreisebene. Er spielte in der ersten Mannschaft bei Borussia Lippstadt, gegen Westtünnen schoss er einmal vier Tore im Alleingang, tack, tack, tack, tack. Der Name sorgte schon für Aufsehen: Rummenigge hatte einen ungewöhnlichen Klang, angeblich kommt das von rumänischen Weinbauern, aber so genau weiß das keiner.

Die Scouts vom FC Bayern haben jedenfalls sofort gesagt: Den können wir nehmen. Da herrschte 1974 helle Aufregung in Lippstadt: 17 500 Mark Ablöse, es wurde über Freundschaftsspiele verhandelt, das hatte es alles noch nie gegeben. Dabei habe ich noch irgendwo das Schreiben von einem Verbandstrainer namens Schneider: Lieber Sportsfreund Rummenigge, aufgrund ihrer aktuellen Leistungen können wir sie nicht weiter für die Westfalenauswahl berücksichtigen.

Der FC Bayern war damals die ganz große Nummer, da spielten Strategen wie Franz Beckenbauer, Gerd Müller oder Uli Hoeneß, sie waren gerade Weltmeister und Europapokalsieger geworden. Mittendrin mein Bruder, den sie anfangs „Rummelfliege“ nannten, weil er so nervös wirkte. Im ersten Trainingslager hatte er mit 17 großes Heimweh. Da hat meine Mutter mich und einen Koffer gepackt und wir sind vier Wochen runtergefahren. Sie hat aufgepasst, dass er seinen Job macht.

Wie Dettmar Cramer. Weil mein Bruder anfangs immer nur auf den Ball schaute, meinte der Trainer irgendwann: Komm, wir gehen in die Kaufingerstraße. Dann lief Cramer in der Fußgängerzone hinter ihm her und sagte plötzlich: Frau im gelben Kleid, links. Oder: Mann im Anzug, hinter dir. Dann musste mein Bruder blitzschnell hinschauen. Peripheres Sehen nennt man so etwas heute, das trainieren Jugendspieler am Computer. Manchmal durfte ich dabeisitzen, wenn sie beim Italiener über Fußball philosophierten.

Mit 117 Punkten gewann Karl-Heinz Rummenigge die Wahl unserer Expertenjury äußerst knapp. Jupp Heynckes folgt mit nur einem Punkt weniger auf Rang zwei.
Mit 117 Punkten gewann Karl-Heinz Rummenigge die Wahl unserer Expertenjury äußerst knapp. Jupp Heynckes folgt mit nur einem Punkt weniger auf Rang zwei.
© Tsp

Bei seinem ersten Bundesligaspiel saßen wir in Lippstadt vor dem Radio und hörten, wie er 0:6 gegen Offenbach verlor. Das tat weh. Aber mein Bruder hat sich ständig weiterentwickelt, als Spieler und als Mensch. Am Anfang spielte er Rechtsaußen und legte Gerd Müller die Bälle vor. Später kam er über links, weil er dann gut nach innen ziehen und schießen konnte, wie heute Franck Ribéry. Er war ein Spieler wie Robert Lewandowski, auch wenn mein Bruder mit dem Ball am Fuß noch schneller war. Ein Riesenkicker, Torschützenkönig und Spielmacher. Mit Paul Breitner verstand er sich blind auf der linken Seite, bei Bayern und in der Nationalelf, „Breitnigge“ schrieben die Zeitungen. 1980 war er Europameister und Spieler des Turniers.

Wir fuhren damals mit der Familie in den Ferien immer nach München. Ich war zwölf und saß in der Kabine zwischen Müller und Beckenbauer und träumte davon, einmal Bayern-Profi zu sein. Ohne meinen Bruder wäre ich dort wohl nicht gelandet, eher bei Schalke oder Dortmund bei uns in der Gegend. Als ich mit 17 kam, haben mich alle mit ihm verglichen: der kleine Bruder, auch blond, da musst du automatisch so gut werden. Was für eine Messlatte! Dabei war ich ein ganz anderer Spieler.

Ich habe das erste halbe Jahr bei ihm und seiner Frau gewohnt, aber schnell gemerkt: Du musst selbst schwimmen lernen. Mein Bruder war da schon Kapitän, bei Bayern und in der Nationalmannschaft, eine Persönlichkeit, eine absolute Autorität und ein Perfektionist. Nach dem Training hat er mit Udo Lattek noch Sonderschichten gemacht, für die Technik und den Torschuss, dabei hatte er ja am Ende 162 Bundesligatore. Als ich einmal beim Ballhochhalten den Ball nur mit der Hand fangen konnte, schnauzte er mich an: Wir sind hier nicht beim Handball, wenn du es nicht kannst, musst dir überlegen, ob du nicht woanders besser aufgehoben bist.

Die Wahl der Leser war eindeutig. Willi Lippens siegte mit 370 Stimmen vor Bernd Hölzenbein. Experten-Sieger Karl-Heinz Rummenigge kam nur auf den fünften Platz.
Die Wahl der Leser war eindeutig. Willi Lippens siegte mit 370 Stimmen vor Bernd Hölzenbein. Experten-Sieger Karl-Heinz Rummenigge kam nur auf den fünften Platz.
© Tsp

Mit ihm im Sturm damals, das war eine harte Schule, die beste, die man haben kann. Ehrgeizig war er schon immer. Und ordnungsliebend, das hatte er von unserer Mutter. Beim Packen legte er jedes Hemd penibel in den Koffer. Wir kommen ja eher aus einem konservativen Haus, da wurde viel Wert auf Benimmregeln gelegt, wie man eine Gabel hält, alles musste ordentlich zu Ende gebracht werden. Es ist kein Zufall, dass meine beiden Brüder und ich nicht nur Profifußballer, sondern auch tüchtige Geschäftsleute geworden sind.

Wir waren alle stolz auf ihn und seine Begabung. Am Vorabend des WM-Finales 1982 wettete mein Vater in der Kneipe, dass Graf Bernhard am nächsten Tag ein Deutschland-Trikot mit der Nummer 11 tragen würde. Am Ende fuhr ihn sogar die Lippstädter Feuerwehr zum Denkmal. Der Stadtgründer trug das Hemd noch ein ganzes Jahr. Dabei ging das WM-Finale verloren, wie auch 1986. Eine Tragik, dass so einem Weltstar die Krönung verwehrt blieb! Er wollte beweisen, dass er zu den Besten gehört, aber er war beide Male nicht fit. Wäre er es zu 100 Prozent gewesen, wäre Deutschland zumindest 1986 Weltmeister geworden, da bin ich mir sicher.

Unser letztes Spiel zusammen war auch sein letztes Spiel für Bayern. Im DFB-Pokal-Finale 1984 sagte er mir plötzlich beim Elfmeterschießen: „Michael, Michael, du – haust – den – jetzt – rein!“ Dabei war ich der Jüngste auf dem Platz und gar nicht als Schütze vorgesehen. Ich traf, wir gewannen. Noch zu Hause spürte ich den Adrenalinschub. Mein bis dahin größtes Erlebnis und vor allem: Ich hatte die Probe meines Bruders bestanden.

Er ist dann zu Inter Mailand gewechselt, etwas anderes als Italien kam für ihn gar nicht in Frage, dabei hätten Barcelona oder Real Madrid wohl noch eine Schippe drauf gelegt. Er mochte die Lebensart, das Essen. In Italien ist er zum Weltmann geworden, ein weiter Weg aus Lippstadt. Wenn ich heute mit ihm in Italien bin, dann kennt ihn da jedes Kind. In Deutschland kennen ihn viele Jüngere nur noch als den Funktionär. In Umfragen gewinnen ja oft die, die noch spielen oder bis vor Kurzem gespielt haben.

Aber es ist schon unfassbar, wenn man sich die Liste durchschaut, welche Fußballer die Bundesliga in 50 Jahren hervorgebracht hat: Netzer, Müller, Häßler ... Und einer davon, das ist mein Bruder.

Michael Rummenigge

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